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Im Wirtshaus »Adler« in Stuttgart

   Im Gastraum des Wirtshauses Adler in Stuttgart sind anwesend: Der Dachdecker, der Kaufmann, der junge Journalist, der Wirt und die Kellnerin. Der junge Journalist verlässt wegen eines Termins mit einem Informanten später das Wirtshaus. Schubart kommt später in die Gaststube. Kurzzeitig anwesend sind: Der Soldat und der Weinlieferant.

   Situation

   Am 11. Mai 1787, nach über zehn Jahren, wurde Schubart aus der Haft auf dem Hohenasperg entlassen. Bereits im Juli 1787 ließ er in Stuttgart die Chronik wieder aufleben, brachte die erste Ausgabe heraus. Das Konzept der neuen Chronik glich der alten. Die gleichen Leserkreise wurden angesprochen. Nur bei den Inhalten wurde ab und zu ein taktisches Maß angewandt. Es gab keinen Zensor - ein Entgegenkommen von Karl Eugen. Wie in Ulm im Gasthaus Zum Baumstark, so auch in Stuttgart: Im Wirtshaus Adler entstanden, in Rede und Widerrede mit den Wirtshausgästen, die Ausgaben.

   Anwesende

   Der Dachdecker ist stellvertretend für die Handwerker, der Kaufmann für die gebildete Bürgerschicht, der Wirt für die aufgeschlossene Geschäftswelt, der junge Journalist für journalistische Arbeitsweisen zu sehen. Die Kellnerin ist Sinnbild für Schubarts Vitalität gegenüber dem weiblichen Geschlecht - auch nach seiner Haft.

   Soldat

   Schubart hat sich während seiner Haft, nach der strengen Einzelhaft beziehungsweise der Hafterleichterung, unter anderem mit dem schweren Los der Soldaten, besonders der Männer befasst, die zwangsrekrutiert und verkauft wurden, beschäftigt. Dies in Gedichten und anderen Veröffentlichungen, die er aus dem Gefängnis schmuggeln ließ. Die Begegnung mit dem Soldaten im Wirtshaus bezieht sich auf diese Situation.

   Szene

   Im Schankraum, gleich rechts neben der Eingangstür ist der große Stammtisch, an dem der Dachdecker, der Kaufmann, der junge Journalist und der Wirt sitzen. Gegenüber der Eingangstür befindet sich die Theke. Hinter der Theke, an der Wand, steht ein großes Regal mit Gläsern. Jeder der am Stammtisch Sitzenden hat eine Ausgabe der neuen Chronik vor sich. Ebenso jeder ein volles Weinglas. Vor dem Dachdecker steht neben dem Weinglas eine halbvolle Weinflasche. Die Kellnerin, die noch recht jung ist und gerade ihre Stelle im Adler angetreten hat, es ist ihr erster Arbeitstag, stellt saubere Gläser von der Theke in das Regal hinter ihr. Die Männer am Tisch lesen und unterhalten sich über einzelne Artikel in der Chronik und über die Chronik insgesamt.

 

Die neue und alte Chronik

   Der Kaufmann schüttelt den Kopf und sagt laut in die Runde:

   »Nein! Nein, das ist nicht mehr die Chronik, die ich kenn. Nicht die Chronik, die Schubart vor dem Hohenasperg geschrieben hat. Jetzt ist sie nicht mehr scharf, jetzt sind die Artikel irgendwie angepasst. Ich möcht sagen, ungefährlich und oftmals langweilig bis einschläfernd. Manche Artikel sind nur Lobhudelei.«

   Der Dachdecker, der nichts über Schubart kommen lässt, empört zum Kaufmann:

   »Du Lalle, das ist die alte Chronik! So wie ich sie noch aus Ulm von ihm kenn. Ich mein nicht die Chronik, die Miller nach Schubarts Verhaftung gemacht hat. Miller hat nicht diese journalistische Klasse, die der Schubart hat. Deshalb ging die Zeitung ja auch alsbald nicht mehr gut und musste eingestellt werden. Schubarts neue Chronik ist wie seine alte. Da hat sich nichts geändert. Da gibt`s gar nichts!«

   Der Wirt zum Dachdecker skeptisch:

   »Ich weiß nicht. Über zehn Jahre Asperg stecken in seinen Knochen. Das hat schon Spuren hinterlassen. Die Chronik ist immer noch interessant, ja, denn was da drin steht, steht nirgends anders drin. Doch so ganz interessant wie früher ist sie, ehrlich gesagt, nicht mehr.«

   Der Dachdecker schaut den Wirt strafend an, will etwas sagen, doch der Wirt kommt ihm zuvor:

   »Ich mein, so interessant wie früher ist sie nicht mehr so oft.«

   Der junge Journalist zum Kaufmann nachdenklich:

   »Zehn Jahre und vier Monate war er auf dem Hohenasperg. Trotzdem, ich find die heutige Chronik sehr interessant und vor allem sehr mutig. Überhaupt nicht angepasst, wenn man von einigen wenigen Artikeln absieht, die aber sicherlich aus taktischen Gründen so sind. Wir, in meiner Redaktion, schreiben auch manchmal Artikel, die unseren Anzeigenkunden gefallen. Er schreibt halt einige Artikel, die unserem Herzog gefallen.«

   Der Dachdecker nimmt einen großen Schluck aus seinem Weinglas und sagt barsch in die Stammtischrunde hinein:

   »Die Chronik ist scharf wie eh und je! Und wisst ihr warum? Gegen sie wird protestiert wie eh und je!«

   Der junge Journalist zum Kaufmann bestimmt:

   »Das ist richtig! In jüngster Zeit häufen sich die Proteste aufgrund von kritischen Berichten. Aus meinen gut unterrichteten Informationsquellen hab ich erfahren, dass Proteste der Regierungen von Dänemark, Österreich und Sachsen eingegangen sind.«

   Der Dachdecker zum jungen Journalisten lärmend:

   »Du vergisst die Proteste der verschiedenen reichstädtischen Magistrate. So sind auch Proteste aus Nürnberg, Landau und Worms gekommen. Die fühlen sich durch diverse Artikel schlecht behandelt und verlangen Widerrufe.«

   Der Wirt lachend:

   »Einige Widerrufe sind ja schon veröffentlicht worden.«

   Der Kaufmann ebenfalls lachend:

   »Immer mit der Bemerkung - Auf höchsten Befehl.«

   Der junge Journalist bewundernd:

   »Er ist ein Zeitungsschreiber durch und durch. Und ein mutiger obendrein. Gleich sechs Wochen nach seiner Entlassung hat er die Chronik wieder aufleben lassen und die erste Ausgabe herausgegeben.«

   Der Dachdecker korrigiert:

   »Es waren weniger als sechs Wochen. Und sie erscheint wie zuvor, zwei Mal die Woche, dienstags und donnerstags.«

   Der Wirt zum jungen Journalisten erstaunt:

   »Was ist in der neuen Chronik so besonders mutig?«

   Der junge Journalist liest aus der Ausgabe vor ihm vor:

   »Hier steht zum Beispiel - Die Briten sprechen viel von Freiheit und doch tyrannisiert niemand mehr die Völker als die Briten. Das zu schreiben, das ist mutig.«

   Der Kaufmann schüttelt wieder den Kopf und sagt zum jungen Journalist:

   »Da geb ich dir nur eingeschränkt Recht. Solch Kritik ans Ausland ist ungefährlich. Von dort kommt selten jemand und will was von ihm. Früher hat er die Fürsten und ihre Willkürlichkeit hierzulande kritisiert, was zugegebenermaßen auch heute noch gefährlich ist. Aber auf der anderen Seite ist das viel interessanter. Auch wettert er nicht mehr gegen die katholischen Pfaffen.«

   Der Wirt nickt dem Kaufmann zu.

   »Bezogen auf hierzulande schreibt er deutlich freundlicher. Ein Beispiel ist hier in der neuesten Ausgabe.«

   Der Wirt liest vor:

   »Kein Land in der Welt hat bessere Fürsten, mildere Obrigkeiten als Deutschland. Unsere Fürsten sind in Ordnung, wenn sie fortfahren, weise Aufklärung zu begünstigen, es wär` Raserei, noch mehr zu wollen.«

 

Zwischen den Zeilen steht die Nachricht

   Der Kaufmann zum Wirt bestimmt:

   »Nein, das ist nicht der alte Schubart. Der hätt` so etwas niemals geschrieben.«

   Der Dachdecker fährt den Kaufmann an:

   »Du Lalle, das ist Taktik! Du musst zwischen den Zeilen lesen.«

   Der Kaufmann zieht die Augenbrauen hoch und fragt spitz:

   »So? Und was les ich da bei dem Beispiel zwischen den Zeilen?«

   Der Dachdecker zögert, wird verlegen, sucht eine Antwort, der junge Journalist kommt ihm zu Hilfe.

   Der junge Journalist zeigt auf einen bestimmten Artikel in der neuesten Ausgabe.

   »Hier steht - Haben wir uns erst einmal zum Gehorsam gegen jemand gewöhnt, so sind wir schwer davon abzubringen. Daher sind wir Deutsche unter allen Völkern der Erde die besten Untertanen.«

   Der junge Journalist zum Kaufmann:

   »Das heißt doch so viel wie, die Deutschen sind gleichmütig duldsame, nicht aufmuckende, eselsähnliche Menschen. Was natürlich kein Deutscher sein möcht. Deshalb wird er zum Nachdenken angeregt. Zum Ändern seines untertänigsten Verhaltens gegenüber Fürsten angeregt. Das ist hier die eigentliche Nachricht - und die ist sehr mutig!«

   Der Dachdecker triumphierend:

   »Genau!«

   Der Kaufmann zögernd:

   »Ich weiß nicht.«

   Der junge Journalist ereifert sich:

   »Der Schubart schreibt wie früher über die hohe und lokale Politik. Ich hab viele seiner alten Ausgaben gelesen, ich weiß wovon ich sprech. Das würd er, wenn ihm auf dem Hohenasperg das Rückgrat gebrochen wär, nicht machen. Dann würd er nämlich überhaupt keine Chronik mehr machen. Und wenn doch, dann würd er nur noch über die Literatur und die schönen Künste schreiben, denn das ist ungefährlich.«

   Der Dachdecker wieder triumphierend:

   »Genau!«

   Der Kaufmann nachdenklich:

   »Da könnt etwas dran sein. Immerhin hat ihn Karl Eugen gleich nach seiner Freilassung zum Theaterdirektor und auch zum Musikdirektor befördert. Sicherlich in der Annahme, dass Schubart, wenn er je wieder für eine Zeitung schreibt, nur über Theaterthemen und Musikthemen schreibt - und nicht über die Politik.«

   Der Dachdecker, dem auch ein Beispiel eingefallen ist, zum Kaufmann laut und aufgeregt:

   »Der Herzog hat sich sicher nie träumen lassen, dass Schubart, der Franzosenhasser, zum Bewunderer der Franzosen wegen ihrer Revolution wird. In der französischen Revolution sieht er, zum Ärgernis des Herzogs, da nehm ich Gift drauf dass das stimmt, den Geist der Freiheit und Größe und Wahrheit. Die seitenlange Veröffentlichung der neuen Pariser Verfassung in der Chronik muss Karl Eugen überhaupt nicht geschmeckt haben.«

   Der junge Journalist bestätigend:

   »Das war tatsächlich sehr mutig. Vor kurzem erst hat ein gewisser Jakob Moser in der Nähe von Ulm wegen der Verbreitung seiner französischen Grundsätze eine Menge Scherereien bekommen. Von irgendwelchen Ahndungen gegen Schubart, nach seiner Veröffentlichung, hab ich nichts gehört. Ihr etwa?«

   Der Wirt zustimmend:

   »Gegen Schubart traut sich der Herzog nicht mehr etwas zu unternehmen.«

   Der Kaufmann nickt.

   »Ist ja schon recht.«

   Der Dachdecker, der in der neuen Ausgabe geblättert hat, schreit freudig auf:

   »Hier hab ich noch etwas mutiges entdeckt. Hört mal her - Fürsten sind um des Volkes Willen, das Volk nicht um des Fürsten Willen. - Freunde, das ist doch eine Ohrfeige für all unsere Fürsten!«

   Die Kellnerin, die den Männern am Tisch zuhört, sagt schnell zum Dachdecker:

   »Ich mein auch, dass Herr Schubart gut schreibt. Einmal hat er von Mondglanzdüften und Flammengedanken und ...«

   Der Wirt unterbricht sie mit einer schroffen Handbewegung. Er will das Thema wechseln und sagt deshalb etwas lauter in die Stammtischrunde:

   »Ich hab gehört, dass die Auflage ständig steigt.«

   Der Dachdecker grinst den Wirt an.

   »Du Lalle, jetzt hast du auch mal etwas Gescheit`s gesagt.«

   Der Kaufmann wieder skeptisch:

   »Ich weiß nicht. Ich mein, die Resonanz der heutigen Chronik lebt zum einem vom Glanz der alten Chronik und zum anderen von Schubarts Ruf, dem großen Märtyrer vom Hohenasperg. Alle Welt sieht in ihm doch den Märtyrer und beachtet deshalb auch besonders seine Zeitung.«

   Der Dachdecker schaut zum Kaufmann und schlägt diesem mit der flachen Hand leicht gegen die Stirn.

   »Da hast du ein dickes Brett!«

   Ärgerlich reißt der Kaufmann die Hand weg.

   Der Wirt, bemüht keinen Streit aufkommen zu lassen, vermittelnd:

   »Wenn etwas an der Chronik auszusetzen ist, dann können wir`s ändern. Mit uns hier im Adler, mit uns, seinen Gesinnungsgenossen und Freunden, macht er doch die Zeitung. Mit uns diskutiert er, auf unsere Rede und Widerrede legt er Wert. Mit uns bespricht er seine Formulierungen - die meisten. Ich sag euch, wir können Einfluss nehmen und einiges ändern.«

   Der Kaufmann zurückhaltend:

   »Ich glaub, so einfach geht`s nicht.«

   Der junge Journalist zum Wirt engagiert:

   »Das glaub ich genauso. Schließlich sagen wir unsere Meinung. Er schreibt sie auf, bringt seine Ansichten dazu und dann wird alles veröffentlicht.«

   Der Wirt lacht:

   »Ist schon recht. Wer schreibt, der bleibt. Er müsst uns auch erwähnen.«

   Der Kaufmann amüsiert:

   »Wer schreibt und dafür den Kopf hinhalten muss, der bleibt nicht.«

   Der junge Journalist stolz:

   »Ich empfind mein Mitwirken, wenn ich auch nur meine Meinung sagen und nicht mitschreiben darf, als eine große Ehr.«

   Der Dachdecker dröhnend:

   »Ich auch!«

   Der Kaufmann fragt den jungen Journalisten nachdenklich:

   »Warum darfst du nicht mitschreiben?«

   Der junge Journalist traurig:

   »Er meint, dass das Pflaster für mich zu heiß wär`, meine Karriere könnt einen nachhaltigen Schaden nehmen. Stattdessen soll ich ihn beobachten und so von ihm lernen.«

   Der Dachdecker prustet:

   »Und wenn er ihn nicht beobachtet, schreibt er Anzeigen für ein Lokalblatt.«

   Der junge Journalist beleidigt:

   »Nein, so ist es nicht! Ich schreib schon mehr als nur Anzeigentexte.«

   Der Wirt zum jungen Journalisten freundlich:

   »Über den Adler hast du vor kurzem ganz gut geschrieben.«

   Die Kellnerin, die den Männern am Stammtisch immer noch aufmerksam zuhört, fragt den jungen Journalisten:

   »Zehn Jahre und vier Monate war er im Kerker? Nur weil er die Chronik gemacht hat?«

   Der Dachdecker zur Kellnerin tadelnd:

   »Nicht weil er die Chronik gemacht hat. Sondern für das, was er in der Chronik geschrieben hat.«

   Die Kellnerin schüchtern:

   »Bei uns im Dorf sagt man, er hätt` den Herzog stark und gleich mehrmals beleidigt, in seinen Artikeln.«

   Der Dachdecker ironisch:

   »Kann man jemand mit der Wahrheit beleidigen?«

   Der junge Journalist zum Dachdecker mahnend:

   »Es ist nicht immer klug, die Wahrheit zu schreiben. Davon kann ich auch ein Lied singen.«

   Die Kellnerin zum jungen Journalisten erstaunt:

   »Du auch?«

   Der junge Journalist, der sich geschmeichelt fühlt, will sich gerade in Position bringen, etwas antworten, als der Dachdecker mit einer wegwerfenden Handbewegung laut zur Kellnerin sagt, dabei auf den jungen Journalisten deutet:

   »Vergiss es! Er war nicht auf dem Hohenasperg.«

   Die Kellnerin zum Dachdecker neugierig:

   »Wie ist er eigentlich frei gekommen, nach so langer Zeit?«

 

Mit Hilfe aus Preußen vom Hohenasperg

   Der Kaufmann zur Kellnerin schnellsprechend:

   »Ein Hymnus Schubarts auf Friedrich den Großen bewirkte, dass sich die preußische Regierung bei Herzog Karl Eugen für Schubarts Entlassung eingesetzt hat.«

   Der Wirt zur Kellnerin ergänzend:

   »Zahlreiche hohe Leute haben sich für seine Freilassung eingesetzt.«

   Der junge Journalist, der nach des Dachdeckers Verweis kurz geschmollt hat, sagt zur Kellnerin:

   »Darunter waren Lavater, Goethe, Campe, der Markgraf von Baden und mehrere Prinzen und Prinzessinnen deutscher Herrscherhäuser.«

   Die Kellnerin, die mit den erstgenannten Namen nichts anfangen kann, ist dennoch beeindruckt und wiederholt:

   »Der Markgraf von Baden und mehrere Prinzen und Prinzessinnen deutscher Herrscherhäuser.«

   Nach einem kurzen Nachdenken sagt sie:

   »Gern möcht ich den Herrn Schubart einmal kennen lernen.«

   Der Dachdecker lacht dröhnend:

   »Wirst du, mein Kind! Wirst du!«

   Der junge Journalist zur Kellnerin förmlich:

   »Am 11. Mai 1787, nach zehn Jahren und vier Monaten Gefangenschaft auf dem Hohenasperg, wurde Schubart in die Freiheit entlassen.«

   Der Kaufmann geringschätzig:

   »In eine Pseudofreiheit, verbunden mit einem monatlichen Gnadenbrot als herzoglicher Musikdirektor und Theaterdirektor. Damit alle Welt sehen kann, wie großzügig unser Karl Eugen ist. Ich sag euch, die lange Haft und vor allem die Haftbedingungen, danach diese nicht echt gemeinte Großzügigkeit unseres Herzogs, das alles hat den Schubart weich gemacht.«

   Der Dachdecker haut auf den Tisch und schreit:

   »Du Lalle, fängst jetzt wieder damit an?«

   Der junge Journalist zum Kaufmann leise:

   »Zwischendurch schien es ein paar Mal, dass er früher raus kommt. Doch der Herzog hat es sich immer wieder anders überlegt.«

   Die Kellnerin zum jungen Journalisten erstaunt:

   »Warum?«

   Der junge Journalist wichtigtuerisch:

   »Meine geheimen Informationsquellen sagen, dass die Herzogin dagegen war.«

   Die Kellnerin mit großen, überraschten Augen:

   »Die Herzogin?«

   Der Dachdecker zum jungen Journalisten spöttisch:

   »Du mit deinen geheimen Informationsquellen.«

   Zur Kellnerin grinsend:

   »Mit der Herzogin, als sie noch keine Herzogin war, soll der Schubart mal ...«

   Er macht, als ob eine Frau neben ihm sitzen würde, die er umarmt und küsst.

   Die Kellnerin empört:

   »Dann müsst sie doch für seine Entlassung sein.«

   Der Dachdecker macht eine abwehrende Handbewegung:

   »Bah, wer kann schon in die Seele einer Frau schauen?«

 

Vom Aushalten und Standhalten

   Der Kaufmann zum Dachdecker ernst:

   »Ich möcht nicht von vorn anfangen, nur etwas Ergänzendes sagen, was die Person Schubart betrifft - nicht die Chronik. Einverstanden?«

   Der Dachdecker brummt:

   »Wenn`s sein muss.«

   Der Kaufmann laut zu den anderen am Tisch:

   »Auf Geheiß des Herzogs sollte Schubart zu einem besseren und vor allem zu einem religiösen Menschen erzogen werden. Um dies zu erreichen, saß Schubart exakt 377 Tage in strengster Haft, ohne menschliche Kontakte. In einer Zelle ohne Fenster. Danach hatte er zwar einige Hafterleichterungen, doch er war immer noch in Haft. Seine Haftzeit auf dem Hohenasperg dauerte, wie unsere liebe Kellnerin auch entsetzt festgestellt hat, viele, viele Jahre.«

   Die Kellnerin ruft:

   »Der arme Mann!«

   Der Dachdecker hartnäckig:

   »Der Schubart hat sich nicht verändert. Die haben ihm nichts anhaben können.«

   Der Kaufmann unbeirrt weiter:

   »Die Besserung Schubarts haben der als recht brutal bekannte Festungskommandant Oberst Rieger und der als besonders engstirnig bekannte Dekan Zilling, Schubarts großer Feind und Widersacher als er in Ludwigsburg war, vorgenommen. Der Rieger hat selbst einmal eine fünf Jahre dauernde Besserung im Kerker durchgemacht. Mit brutaler Freude, da bin ich mir sicher, hat er die Möglichkeit wahrgenommen, all das selbst Erlebte mit Zins und Zinseszins an Schubart weiterzugeben.«

   Der Dachdecker hartnäckig:

   »Der Schubart hat sich nicht verändert! Die haben ihm nichts anhaben können. Er hat sie alle an der Nase herum geführt.«

   Der Kaufmann fährt etwas lauter fort:

   »Wie unser junger Freund,“ er zeigt auf den jungen Journalisten neben sich, „uns einmal berichtet hat, was er von seinen Informanten erfahren hat, sollen sich diese beiden Leuteschinder des Öfteren getroffen und dabei sich immer besprochen haben, mit welchen weiteren, neuen brutalen Methoden sie bei der sogenannten Umerziehung Schubarts weiter machen können. Mit welchen harten Mitteln Schubart wieder an die heilige Religion herangeführt werden soll, wobei wir alle wissen, dass er schon immer gottesfürchtig und gläubig war und somit es überhaupt keinen Anlass für das Einsetzen dieser Mittel gab.«

   Der junge Journalist laut in die Tischrunde:

   »Schubart selbst spricht hierüber nicht, doch meine Informationsquellen sind absolut glaubwürdig. Oben auf dem Hohenasperg muss es für ihn äußerst brutal und schrecklich gewesen sein.«

   Der Wirt nickt.

   »Da kann selbst der stärkste Mann zerbrechen.«

   Der Kaufmann eindringlich:

   »Glaubt und hofft jemand in seiner Not auf Gott, kommt dieser spätestens dann in tiefe, furchtbare Verzweiflung, wenn die größten Peiniger bei ihren schändlichen Handlungen ihm sagen, ihre Handlungen wären gottbefohlen. Von jenem Gott an den man selbst glaubt, sich in seiner Not wendet. Irgendwann, wenn das Rückgrat des Gepeinigten gebrochen ist, gibt es für diesen nur noch einen Gott, den der Peiniger. Vom Namen her und vielleicht von den Äußerlichkeiten her ist es der gleiche Gott. Doch er muss ein anderer Gott sein, sonst hätten die Peiniger ihre Absicht verfehlt. Versteht ihr, was ich mein?«

   Der Wirt beeindruckt:

   »Da breitet sich bei einem normalen Menschen im Kopf die Raserei aus.«

   Der Kaufmann und der junge Journalist nicken, die Kellnerin schüttelt den Kopf.

   Der Dachdecker weiter hartnäckig und trotzig:

   »Schubarts Kopf ist so ausgefüllt, da hat die Raserei keinen Platz.«

   Der Kaufmann winkt ab und sagt bestimmt:

   »Eine so brutale, menschenverachtende Gehirnwäsche hat ihre eigenen Gesetze.«

   Der junge Journalist nachdenklich:

   »Der geistige, religiöse Beistand für Schubart durch den Zilling war eine getarnte Rache.«

   Der Kaufmann nickt dem jungen Journalisten zu.

   »Richtig, mit Erfolg! Verfiel Schubart auf dem Hohenasperg nicht in grässliche Reueschwüre und Selbstanklagen? Hat er nicht irgendwann in seinem Kerker sogar Gott für die Gefängnishaft, für die ihm so gegebene Chance zur Einkehr, gedankt?«

   Der junge Journalist nickt.

   »Ja, meine Informationsquellen bestätigen das!«

   Der Wirt schüttelt den Kopf.

   »Jahrelang durfte ihn noch nicht einmal seine Frau besuchen.«

   Der Kaufmann fast beschwörend zum Dachdecker:

   »Auch andere sehen es so, dass er heut, nach dem Asperg, seinem Schicksalsberg, nicht mehr derselbe ist.«

   Der Dachdecker missmutig:

   »So, wer denn? Wer sieht es so?«

   Der Kaufmann ausweichend:

   »Ich kenn einige Leut, die das so sehen.«

   Der Dachdecker herausfordernd:

   »Ich weiß nur, dass Schubart in seinem Kerker ein Gedicht geschrieben hat, dass er herausschmuggeln ließ, dass den Herzog sehr geärgert hat, weil es ihn verhöhnt und verspottet. Ich red von dem Gedicht Die Fürstengruft. Dieses Gedicht zeugt vom alten Schubart. Davon, dass des Herzogs Lakaien, dieser Kerkermeister und dieser Dekan, dem Schubart nichts haben anhaben können.«

   Die Kellnerin neugierig zum Dachdecker:

   »Was ist das für ein Gedicht?«

   Der Dachdecker verlegen:

   »Ich bin nicht so gut im Merken. Doch etwas hab ich im Kopf behalten ...«

   Der junge Journalist springt auf und trägt theatralisch vor:

»Da liegen sie, die stolzen Fürstentrümmer

Ehmals die Götzen ihrer Welt

Da liegen sie, vom fürchterlichen Schimmer

Des blassen Tags erhellt

Da liegen Schädel mit verloschnen Blicken

Die ehmals hoch herabgedroht

Der Menschheit Schrecken, denn an ihrem Nicken

Hing Leben oder Tod

Vertrocknet und verschrumpft sind die Kanäle

Drin geiles Blut wie Feuer floss

Das schäumend Gift der Unschuld in die Seele

Wie in den Körper goss.«

   Der junge Journalist fragt in die Runde:

   »Kennt noch jemand ein paar Strophen? Ich kenn nur die, weil die mir am besten gefallen.«

   Der Kaufmann, der Wirt und die Kellnerin klatschen. Der Dachdecker ruft dem jungen Journalisten anerkennend zu:

   »Besser hätt` ich’s auch nicht machen können. Kannst dir ein Flasche Wein auf mein Namen bestellen. Der Korken dann an mich.«

   Der Wirt zum Dachdecker lachend:

   »Wie viel Korken hast du denn schon?«

   Der Dachdecker grinsend:

   »Zwei Flaschen, zwei Korken. Keine Angst, ich bezahl dir schon alles.«

   Der Dachdecker zum Kaufmann belehrend:

   »Die Fürstengruft war eine volle Breitseite gegen den Herzog. Jemand, der nicht mehr an sich glaubt, gebrochen von einer Haft, würd so etwas nicht schreiben. Der Schubart ist ein Fels.«

   Der junge Journalist, stolz über sein Wissen, zum Dachdecker:

   »Bekannt geworden ist doch auch ein Brief, den er ebenfalls heraus schmuggeln lies. Er bezieht sich auf die Landeskinder, die zum Kapregiment, das zeitweilig auf dem Asperg stationiert war, gezwungen wurden. In dem Brief beklagt er das Schicksal der Soldaten. Offen hat er geschrieben, dass die im Kapregiment befindlichen Eltern, Ehemänner, Liebhaber, Geschwister, Brüder, Freunde, Söhne wahrscheinlich auf immer verloren sind. Das zeugt auch nicht von einem dem Herzogs Willen Angepassten, sondern, trotz harter Haft, von einem kritischen Freidenker.«

   Der Kaufmann lenkt ein:

   »Von diesem und von anderen Briefen hab ich auch gehört. In einem herausgeschmuggelten Brief hat er geschrieben, dass er kein Lehrer an der Karlsschule, unseres Herzogs liebstes Spielzeug, werden könnt. Das alles sei ihm so widerlich, dass er sein Ekel nicht beschreiben könnt. Er tauge nicht für solch eine Sklavenfabrik. Er wolle kein Sklave des Herzogs sein und für diesen auch keine Sklaven machen. Niemals wolle er seinem Geist Fesseln anlegen lassen und selbst helfen, Geister in Ketten zu legen. Ich geb zu, dass, geschrieben während der Haft, ist wirklich mutig und zeugt von einem starken Charakter.«

   Der Dachdecker grölt erfreut:

   »Na also, was sag ich die ganze Zeit! Der Schubart hat seinen Geist behalten und seine Peiniger genarrt. Ich sag euch, die Haftbedingungen und die als religiös getarnte Gehirnwäsche haben dem Schubart nichts anhaben können. Bei jedem anderem ja, doch nicht bei ihm. Er hat sie alle an der Nase herumgeführt. Seine Reueschwüre waren nur Mittel zum Zweck. Er wollt halt frei kommen.«

   Der Wirt, der aufgestanden ist und zum Fenster hinaus schaut, ruft laut und warnend:

   »Schubart kommt!«

   Der Kaufmann sagt schnell:

   »Ich schlag vor, wir reden nicht weiter. Reden wir über etwas Allgemeines.«

   Alle in der Gaststube Anwesenden nicken.

   Der junge Journalist zum Dachdecker leise:

   »Ich werd einmal einen Artikel über den unbeugsamen Schubart schreiben.«

   Der Dachdecker klopft dem jungen Journalisten anerkennend auf die Schulter.

   »Tu das, mein Sohn!«

 

Im Dunstkreis der Weinfreunde

   Beschwingt kommt Schubart in die Gaststube, seine Gesichtsfarbe ist rötlich. Er hat schon etwas getrunken. Er ruft laut und dröhnend:

   »Grüß Gott, ihr lieben Leut! Meine Freunde! Am wohlsten fühl ich mich im Dunstkreis eurer Zuneigung und Freundschaft, liebe Brüder, die wir im Geist des Weines verbunden sind. Der Marktplatz ist mir in ganz Stuttgart am liebsten. Wisst ihr warum? Weil das Gasthaus Adler da sein Standort hat.«

   Alle am Tisch lachen, der Dachdecker ruft:

   »So ist`s recht!«

   Der Wirt geschmeichelt zu Schubart, der sich ihm gegenüber an den Tisch setzt:

   »Das hör ich gern!«

   Schubart zum Dachdecker lachend:

   »Na, wie viel Korken hast du schon in deiner Tasche?«

   Der Dachdecker verschmitzt:

   »Da ich erst eine und eine halbe Flasche getrunken und eine spendiert hab, unserem jungen Journalisten, nur drei.«

   Schubart leutselig und kritisierend:

   »Das sind aber noch wenig Korken.«

   Der Dachdecker wehrt mit einer Hand ab und ruft:

   »Der Abend ist noch jung, die Nacht noch lang. Da kommen schon noch ein paar Korken in meine Tasche.«

   Der Wirt lachend:

   »Ich hab nichts dagegen!«

  Schubart zeigt auf den Dachdecker und sagt zum Wirt beschwingt:

   »Heut will ich auch Korken von geleerten Weinflaschen sammeln und keine Striche von geleerten Gläsern auf dem Deckel zusammen zählen müssen. Wirt, heut bin ich in Spendierlaune.«

   Der Wirt stöhnt, sagt aber dann:

   »Das ist gut für mich als Wirt. Doch als Mensch weiß ich jetzt, dass ich nicht vor Morgengrauen ins Bett komm. Wobei noch die Frage offen ist, ob ich’s überhaupt bis dorthin schaffen werd.«

   Schubart klopft auf den Tisch und sagt laut zum Wirt:

   »Jetzt schwätz hier nicht rum, bring uns zwei Flaschen Uhlbacher und lass sie auf Kosten des Hauses anschreiben. Die nächsten zahl ich dann.«

   Der Wirt erstaunt:

   »Auf Kosten des Hauses?«

   Schubart zwinkert dem Dachdecker zu und sagt:

   »Das wär eine schöne Referenz an seine besttrinkenden Gäste.«

   In die Runde ruft er:

   »Ihr seid natürlich eingeladen.«

   Der Wirt wiederholt ungläubig:

   »Auf Kosten des Hauses?«

   Schubart leutselig:

   »Lass mal, heut noch nicht. Aber das nächste Mal sicher.«

   Der Wirt nickt erleichtert.

   Der Kaufmann zu Schubart neugierig:

   »Du bist so gut gelaunt, gibt’s einen Grund?«

   Schubart lehnt sich in seinem Stuhl zurück und frohlockt:

   »Ja, ich weiß jetzt, mit den Schwaben geht’s aufwärts. Woran ich im Übrigen nie gezweifelt hab.«

   Der Kaufmann verständnislos:

   »Aha?«

   Schubart poetisch in die Stammtischrunde:

   »Der Geist der Aufklärung hat die Schwaben erfasst.«

   Alle Anwesenden schauen sich an, sie können die Worte nicht zuordnen. Die Kellnerin bringt die zwei Flaschen Uhlbacher. Der Dachdecker deutet ihr an, dass sie gleich noch eine Flasche auf seine Rechnung bringen soll. Die Kellnerin nickt und geht zur Theke zurück. Der Dachdecker schenkt Wein in die Gläser.

   Schubart aufgeräumt:

   »Der Geist ist noch ein Geistle, doch bald wird er wachsen, größer und größer werden. Bald wird er überall zu spüren und zu sehen sein.«

   Der Kaufmann neugierig:

   »Was macht dich so sicher?«

   Schubart fasst sich an den Kopf, stellt sich nachdenkend, lacht dann übermütig:

   »Ich hab nachgedacht und festgestellt, es sind eine ganze Reihe von Faktoren. Beispiel, vor kurzen hatt` ich bei mir zu Haus Besuch von einem jungen Schriftsteller, der mich hoffen lässt. Friedrich Hölderlin heißt er. Auf ihn müssen wir aufpassen, aus ihm wird noch was. Und dann die Chronik. Sie rüttelt die Leut wieder mit großem Donner aus dem Tiefschlaf. Ungehindert, ohne Zensur. Das war noch nie so.«

   Die Anwesenden schauen sich kurz an, schütteln die Köpfe. Der Kaufmann legt einen Finger auf seinen Mund und gibt dadurch zu verstehen, dass niemand etwas dazu sagen soll. Schubart bemerkt nichts.

   Der Dachdecker polternd:

   »Ich hab auch nachgedacht und mein, dass dein Aufklärgeist erst nach mir, wenn ich mit Petrus die Weinflaschen leere, zu den Schwaben kommt. Und wenn er kommt, hat er bei den vielen Hornochsen in den Ämtern übermäßig viel zu tun.«

   Schubart fröhlich:

   »Wir müssen diesem Geist den Weg bereiten.«

   Der Dachdecker skeptisch:

   »Gegen die vielen Hornochsen kannst du zu Lebzeiten nicht viel machen. Mach`s so wie ich. Wenn es mal so weit ist, lass ich mich auf dem Bauch liegend begraben, damit mich alle am Arsch lecken können.«

   Schubart lacht.

   »Das ist gut und klug. Kommt Freunde, damit es bald soweit ist, die Hornochsen uns am Allerwertesten lecken können, saufen wir.«

   Er hebt sein Glas prostet den anderen zu, die ihm ebenfalls zuprosten, und nimmt einen großen Schluck.

   Der junge Journalist steht auf und sagt in die Runde bedauernd:

   »Leider muss ich euch verlassen. Die Pflicht ruft. Ich treff mich noch mit einigen Bediensteten, die mich über spezielle bauliche Maßnahmen hier in Stuttgart informieren wollen. Darüber muss ich ein Artikel schreiben. Aber wenn ihr bis morgen früh dem Wein zuspricht, dann komm ich noch in der Nacht wieder.«

   Auf die fast volle Weinflasche vor ihm auf dem Tisch deutend ruft er:

   »Leert meine Flasche von des Dachdeckers Gnaden auf mein Wohl.«

   Der Dachdecker zum jungen Journalisten grinsend:

   »Triffst dich mit deinen geheimen Informationsquellen, eh?«

   Der Journalist ernst:

   »Solche Informationsquellen sind für einen Journalisten sehr wichtig.«

   Schubart ruft laut lachend:

   »Lebenswichtig! – Das stimmt! Ich hab auch solch Informationsquellen, ohne die ich nicht auskomm.«

 

Eine Forelle soll aufpassen

   Der junge Journalist hebt die Hand zum Gruß und verlässt eilig die Gaststube. Die Kellnerin bringt die vom Dachdecker bestellte Weinflasche und gibt ihm den Korken.

   Schubart sagt zur Kellnerin amüsiert:

   »Schönes Kind, welches neu in diesem Tempel der Freidenker ist, das nächste Mal gibst du mir den Korken.«

   Die Kellnerin unsicher, blickt kurz zum Dachdecker, sagt aber dann mit fester Stimme:

   »Jawohl, Herr Schubart!«

   Schubart betrachtet sie ungeniert von oben bis unten, sagt dann gönnerhaft:

   »Kannst Christian zu mir sagen.«

   Die Kellnerin errötet.

   »Jawohl, Herr ..., jawohl.«

   Schubart, dem die Kellnerin gefällt, fragt:

   »Von wo kommst du?«

   Die Kellnerin schnell und etwas zu laut:

   »Aus der Gegend von Nürtingen.«

   Schubart nickt anerkennend.

   »Sind da alle Mädchen so schön und unverbraucht wie du?«

   Das Gesicht der Kellnerin wird noch röter.

   Der Dachdecker zu Schubart grölend:

   »Auf dem Land sind die Mädchen bekanntermaßen anders als in Stuttgart. Gefühlsbetonter, naturbelassener, wärmer und nicht so zickig.«

   Schubart deutet auf den Dachdecker und sagt zur Kellnerin im vertraulichen Ton:

   »Vor dem und seinesgleichen, die hier im Adler verkehren, musst du dich in Acht nehmen.«

   Der Dachdecker wieder grölend:

   »Hör bloß auf, du Lalle.«

   Schubart weiter im vertraulichen Ton zur Kellnerin, noch immer auf den Dachdecker deutend:

   »Der sauft nicht nur wie ein Loch, der macht auch noch andere Sachen übermäßig. Gegen den bin ich nur ein Waisenknabe.«

   Unsicher schaut die Kellnerin auf Schubart, den Dachdecker und dann auf den Wirt, der nur dasitzt und grinst.

   Der Kaufmann ruft dazwischen:

   »Wir passen auf sie auf!«

   Schubart zur Kellnerin einschmeichelnd:

   »Ich möcht dir sagen, dass ich Kellnerinnen besonders mag.«

   Der Dachdecker schreit in die Runde:

   »Jetzt geht er zum Angriff über. Wir müssen sie warnen.«

   Schubart nimmt eine Hand der Kellnerin, die er streichelt, und sagt zu ihr in einem einschmeichelnden, werbenden Ton:

   »Du, meine Forelle, ich will dir etwas sagen. Sei klug, bei all diesen Mannsbildern hier, und hör mir genau zu, denn nur ich bin der Richtige für dich.«

   Im Wirtshaus entsteht ein großes Gelächter. Die Kellnerin steht unschlüssig da, feuerrot im Gesicht. Sie weiß nicht, was sie von dem, was Schubart ihr sagt, halten soll.

   Schubart schreit in die Runde:

   »Ruhe, ich muss mich konzentrieren!«

   Das Gelächter ebbt ab. Schubart schaut die Kellnerin treuherzig an und trägt vor:

»In einem Bächlein helle

Da schoss in froher Eil

Die launische Forelle

Vorüber wie ein Pfeil

Ich stand an dem Gestade

Und sah‘ in süßer Ruh

Des muntern Fisches Bade

Im klaren Bächlein zu

Ein Fischer mit der Rute

Wohl an dem Ufer stand

Und sah’s mit kaltem Blute

Wie sich das Fischlein wand

So lang dem Wasser Helle

So dacht’ ich, nicht gebricht

So fängt er die Forelle

Mit seiner Angel nicht

Doch plötzlich ward dem Diebe

Die Zeit zu lang. Er macht

Das Bächlein tückisch trübe

Und eh‘ ich es gedacht

So zuckte seine Rute

Das Fischlein zappelt dran

Und ich mit regem Blute

Sah die Betrogne an

Die, wie ihr «,

Schubart deutet auf die Kellnerin,

»an der goldnen Quelle

Der sichern Jugend weilt

Denkt doch an die Forelle

Seht ihr Gefahr, so eilt

Sonst blutet ihr zu spät.«

   Im Wirtshaus ist es während Schubarts Vortrag ruhig. Jeder hört belustigt zu. Am Ende des Vortrags lachen, pfeifen und klatschen die Männer am Tisch.

   Die Kellnerin, die sich wieder gefangen hat, zu Schubart lächelnd und selbstsicher:

   »Das war sehr schön. Vielen Dank für den guten Rat.«

   Dann antwortet sie keck:

   »Doch dass du der Richtige bist, dass, bitte verzeih, möcht ich doch bezweifeln.«

   Wieder ist ein lautes Lachen im Wirtshaus zu hören.

   Der Dachdecker schreit:

   »Das ist der alte Schubart, so kenn ich ihn. Schubart, ich trink auf dein Wohl und auf deine gerad eingefangene Niederlage.«

 

Ein Glas Wein für einen tapferen Soldaten

   Die Tür zur Gaststube geht auf, ein Soldat kommt herein. Er grüßt die Anwesenden und geht zur Theke.

   Schubart setzt sein Weinglas ab und sagt zum Soldat provozierend:

   »He, du tapferer Streiter für den Frieden. Komm her, setz dich zu uns und trink einen Wein mit uns.«

   Der Soldat zögert, kommt dann aber zum Tisch. Der Wirt steht auf, bietet ihm einen freien Stuhl an, geht zur Theke und lässt sich dort von der Kellnerin ein Glas für den Soldaten geben. Der Dachdecker schenkt dem Soldaten ein. Dann hebt er sein eigenes Weinglas hoch, alle anderen am Tisch ihre Gläser ebenfalls. Man prostet sich zu und trinkt.

   Schubart zum Soldaten mitfühlend:

   »Soldat zu sein ist kein Honigschlecken.«

   Der Soldat vorsichtig:

   »Das ist richtig.«

   Der Dachdecker mitfühlend:

   »Trinken wir auf ein schöneres Leben.«

   Alle am Tisch heben wieder ihre Gläser, prosten sich zu und trinken.

   Danach sagt Schubart zum Soldaten todernst:

»Zieh hin, du braver Krieger, du

Wir gleiten dich zur Grabesruh

Und schreiten mit gesunkner Wehr

Von Wehmut schwer

Und stumm vor deinem Sarge her

Du warst ein biedrer, deutscher Mann

Hast immerhin so brav getan

Dein Herz, voll edler Tapferkeit

Hat nie im Streit

Geschoss und Säbelhieb gescheut

Warst auch ein christlicher Soldat

Der wenig sprach und vieles tat

Dem Fürsten und dem Lande treu

Und fromm dabei

Von Herzen, ohne Heuchelei

Du standst in grauser Mitternacht

In Frost und Hitze auf der Wacht

Ertrugst so standhaft manche Not

Und danktest Gott

Für Wasser und für's liebe Brot

Wie du gelebt, so starbst auch du

Schlossest deine Augen freudig zu

Und dachtest: Aus ist nun der Streit

Und Kampf der Zeit

Jetzt kommt die ew'ge Seligkeit.«

   Am Tisch ist es wieder ruhig. Der Soldat schaut unsicher von einem zum anderen. Alle starren mit gespielt todernster Mine vor sich hin. Schnell leert der Soldat sein Glas, bedankt sich für die Einladung und stürzt zur Tür hinaus. Kaum hat er die Gaststube verlassen, brüllen die Männer vor Lachen los. Schubart wischt sich Lachtränen aus den Augen.

   Der Wirt zu Schubart, den Finger erhoben, lachend:

   »Du vertreibst mir die Gäst. Der kommt bestimmt niemals wieder.«

   Der Kaufmann klopft vergnügt auf den Tisch.

   »Das glaub ich auch. Dort, wo mir gesagt wird, was für ein scheiß Leben ich hab, da geh ich auch nie wieder hin.«

   Als sich jeder wieder beruhigt hat, sagt Schubart zum Dachdecker:

   »Hab gehört, du sollst der illegitime Sohn des Trierer Erzbischofs sein. Im Ernst, das hab ich gehört.«

   Der Dachdecker, dessen Gesicht sich kurz verfinstert, der aber sogleich seine gute Laune wieder findet, deutet auf Schubart und sagt laut in die Runde:

   »Das sind die Journalisten! Was die nicht alles hören? Von irgendjemand, von irgendwo her. Haben immer irgendwo geheime Informationsquellen. Doch wer sagt, dass die Journalisten auch alles wissen müssen? Dass sie auf eine Frage immer eine Antwort haben müssen?«

   Er prostet Schubart zu und sagt:

   »Mein Freund und Weinbruder, lass den Erzbischof in Trier und mich heut im Adler sein. Auf das Leben, die Liebe und ihre Folgen.«

   Schubart und die anderen heben wieder ihre Gläser, prosten sich zu und trinken. Als die Gläser auf dem Tisch stehen, füllt der Dachdecker sie nach.

 

Der gute Trollinger aus Uhlbach

   Die Tür zur Gaststube geht auf. Herein kommt ein Mann mit einer Holzkiste, angefüllt mit Weinflaschen, an der er schwer zu tragen hat. Er grüßt die Männer am Tisch und geht dann sogleich zur Theke. Der Wirt steht auf und geht ebenfalls zur Theke. Dort hat die Kellnerin bereits begonnen, die Weinflaschen aus der Kiste zu nehmen und im Schrank unter der Theke einzuordnen.

   Der Kaufmann deutet auf den Weinlieferanten und ruft fröhlich zu seinen Tischnachbarn:

   »Gerettet! Wir brauchen keine Not zu leiden. Er bringt den Nachschub. Sicherlich direkt aus Uhlbach.«

   Schubart dreht sich zur Theke, zum Weinlieferanten, und sagt gespielt drohend:

   »Ich hoff, du kommst aus Uhlbach und bringst trinkbaren Wein. Ich hoff nicht, dass du aus Heslach kommst und den Sauerampfer von dort uns bringst.«

   Der Weinlieferant eilfertig:

   »Ich komm aus Uhlbach und bring Uhlbacher Wein.«

   Der Dachdecker theatralisch und von oben herab zum Weinlieferanten:

   »Das loben wir uns, mein Freund.«

   Der Wirt zu den Männern am Tisch belustigt:

   »Nach euren Beschwerden und vor allem nach eurem Streit mit den beiden Heslacher Weingärtner Klumpp und Fesel hier in der Wirtschaft, nehm ich von denen nichts mehr.«

   Der Dachdecker frohlockt:

   »Oho, ein Wirt, der auf seine Gäste hört. Wir kommen wieder, - nein, wir gehen erst gar nicht weg.«

   Schubart zum Wirt belustigt:

   »Ich hab einen netten Trinkspruch auf deine ehemaligen Heslacher Weingärtner namens Klumpp und Fesel -

Nimm`s K hinweg vom Klumpp

Und`s F hinweg von Fesel

So ist der Ein ein Lump

Der andere ein Esel.«

   Wieder lachen alle am Tisch, heben die Gläser, prosten sich zu und trinken.

   Der Weinlieferant zum Wirt leise:

   »Die haben ja schon einiges intus.«

   Der Wirt nickt gespielt bekümmert:

   »Das ist erst der Anfang.«

   Der Wirt bezahlt die Weinlieferung. Danach lobt der Weinlieferant die Männer am Tisch wegen deren ausgezeichneten Weingeschmacks und verlässt die Gaststube mit dem Wunsch, mit einer vollen Weinkiste schnell wieder kommen zu dürfen. Am besten gleich morgen. Die Männer am Tisch trinken auf sein Wohl und danach auf den Allmächtigen, dass er immer so einen gut trinkbaren Wein, wie den Uhlbacher, den Menschen schenken möge.

 

Von eigenwilliger Gestik und von Drahtpuppen

   Kaum stehen die Gläser wieder auf dem Tisch, sagt der Kaufmann zu Schubart:

   »Ich trink auf den herzoglich bestellten Musikdirektor und Theaterdirektor Schubart, auf dass er bald und endlich einmal für mehr Abwechslung bei den schönen Künsten sorgen wird.«

   Schubart zum Kaufmann trocken:

   »Da kannst allein trinken.«

   Der Kaufmann, der sein Glas wieder absetzt, erstaunt:

   »Warum denn?«

   Schubart winkt ab.

   »Kein Mos, nichts los! Der Herzog hat keine mäzenatische Ambitionen mehr. Er sieht nur noch die Karlsschule. Dort pulvert er sein ganzes Geld rein.«

   Der Wirt, der wieder am Tisch sitzt, nickt Schubart zu:

   »In diese verkappte Soldatenschmiede, leider. Ich hab das auch schon gehört.«

   Schubart zum Kaufmann ernst:

   »Die öffentlichen Konzerte, sonntags von fünf bis acht Uhr abends, sind nichts besonders. Mit dem öffentlichen Konzertieren hinkt Stuttgart um ein paar Jahre hinter Wien und auch Berlin hinterher. Den Schwaben wird doch nachgesagt, dass sie sehr sparsam sind. Fürwahr, bei diesen Konzerten, aber auch in anderen Kunstbereichen, trifft das sehr augenscheinlich zu.«

   Der Kaufmann überrascht und zugleich ernst:

   »Du, als Musikdirektor und Theaterdirektor, musst das doch wenigstens etwas ändern können?«

   Schubart schüttelt den Kopf und antwortet betrübt:

   »Die Leut müssen für den Theaterbesuch oder Opernbesuch genauso viel bezahlen wie die Wiener. Dabei sind unsere Darbietungen viel schlechter. Jeder bei uns auf der Bühne fuchtelt mit den Händen herum, wie es ihm beliebt. Die Frauenzimmer sind meist steif wie Drahtpuppen. In Stuttgart sind wir beim künstlerischen Niveau weit unterm deutschen Durchschnitt.«

   Der Kaufmann hartnäckig:

   »Das müsstest du`s doch ändern können? Junge Talente fördern. Die sind auch billig.«

   Schubart leise in die Runde:

   »Euch kann ich’s offen sagen. Mein vom Herzog angetragenes Amt hab ich zwischenzeitlich ganz abgeschüttelt. Natürlich sag ich das nicht öffentlich. Damit man es nicht merkt, mach ich noch die Prologen auf die durchlauchigsten Namenstage und Geburtstage.«

   Der Kaufmann ungläubig:

   »Das hätt` ich nicht gedacht.«

   Die anderen am Tisch stimmen ihm zu.

   Schubart weiter mit leiser, vertraulicher Stimme:

   »Der Herzog ist knausrig wie nie. Selbst mein Gesuch wegen einem Klavier hat er abgelehnt. Aber wenigstens ist es zu einigen Uraufführungen von schwäbischen Landeskindern wie Dieter und Gauss gekommen.«

   Der Dachdecker zu Schubart gespielt provozierend:

   »Wenn alles so unansehnlich ist, warum hast du dann in der Chronik die Damen aufgefordert, durch hohen Kopfputz, große Hütte und stehende Federbüsche dem betrachtenden Zuschauer hinter ihnen nicht die Aussicht zu nehmen?«

   Schubart lacht laut auf.

   »Ich will halt, dass jeder Zuschauer das Unvermögen auf der Bühne mitbekommt. Zudem, was soll ich schreiben? Verreißen kann ich die Aufführungen, für die ich verantwortlich sein soll, doch nicht.«

   Der Kaufmann beschwörend:

   »Hast Recht! Schädig den Herzog, kassier dein monatlichen Lohn als Musikdirektor und Theaterdirektor und kümmer dich ganz um die Chronik:«

   Schubart, in sich gekehrt, antwortet geistesabwesend:

   »Der Lohn ist gut und dennoch zu gering, für lebenslänglich des Herzogs Sklavenjoch zu tragen.«

   Der Kaufmann schaut die anderen am Tisch an und sagt dann zu Schubart:

   »Der Herzog hat dich mit der Stelle des Musikdirektors und Theaterdirektors eh in einen golden Käfig gefangen nehmen wollen.«

   Schubart, immer noch in sich gekehrt, monoton:

   »Ich hatt` eine persönliche Audienz beim Herzog. Ich muss gestehen, er war außerordentlich gnädig. Dies bezieh ich, hier am Tisch gesagt, auf die Chronik. Ich hab keine Instanz als ihn über mir, es gibt keine Zensur, er lässt mir freie Hand. Natürlich darf ich nicht übers Ziel schlagen, doch das Ziel ist nicht definiert. Gegen den Herzog ist nun mein aller Groll wie Nachtgewölk verschwunden.«

   Wieder schauen sich alle erstaunt an. Der Kaufmann fragt ungläubig:

   »Deine ungerechtfertigte Gefangennahme, deine unmenschlich lange und brutale Einkerkerung, das hast du ihm verziehen?«

   Schubart, den Kopf gesenkt, traurig und geistesabwesend:

   »Was will ich mehr? Ich wohn nicht schlecht, Am Graben, Ecke zur Langen Gasse. Ich verdien nicht schlecht. Ich hab mein gutes Auskommen und kann die Chronik recht frei machen.«

   Der Dachdecker zu Schubart betroffen und bedrückt:

   »Hier im Adler ist kein Spion des Herzogs, der dich verraten könnt. Du kannst offen sprechen.«

   Schubart gibt keine Antwort, starrt nur selbstvergessen vor sich hin.

   Der Kaufmann, der die Situation retten will, sagt laut:

   »Oben, auf dem Hohenasperg, da hat dich der Schiller besucht.«

 

Die Vorlage für Friedrich Schiller

   Der Wirt grübelnd:

   »Der Schiller?«

   Schubart leise zu sich selbst:

   »Das war ein erfreulicher Höhepunkt in dieser langen Einsamkeit - oben auf dem Berg.«

   Der Kaufmann zum Wirt erklärend:

   »Friedrich Schiller, ein Dichter, der auch auf der Karlsschule war, doch dann nach Baden abgehauen ist. Ich glaub, es war im Jahr 1782. Er hat aus Schubarts Zur Geschichte des menschlichen Herzens ein Drama verfasst, das Die Räuber heißt.«

   Schubart zum Wirt monoton:

   »Schiller ist im Dramatischen der erste Dichter der Deutschen.«

   Der Wirt zu Schubart zweifelnd:

   »Der hat dich besucht und wurde nicht gleich in Haft genommen, obwohl er geflohen ist?«

   Der Dachdecker raunzt den Wirt an:

   »Du Lalle, zuerst hat er Schubart auf dem Berg besucht und ist dann geflohen. Nicht umgekehrt.«

   Die Kellnerin fragt Schubart neugierig, aber auch aufgrund dessen passiven, trübsinnigen Haltung besorgt:

   »Was ist das für eine Geschichte, die Geschichte des menschlichen Herzens?«

   Schubart hebt den Kopf, will ihr antworten. Der Kaufmann kommt ihm zuvor, indem er Schubart fragt:

   »Darf ich ihr antworten?«

   Schubart nickt, trinkt einen kleinen Schluck Wein und starrt dann wieder vor sich hin.

   Der Kaufmann zur Kellnerin erzählend:

   »Ein Edelmann hatt` zwei Söhne von ungleichem Charakter. Wilhelm war fromm und der gehorsamste Sohn seines Vaters. Carl war völlig das Gegenteil, er war offen, voll Feuer, lustig, zuweilen unfleißig, machte seinen Eltern und seinem Lehrer durch manchen jugendlichen Streich Verdruss. Dieses machte ihn zwar zum Liebling des Hausgesindes und des ganzen Dorfes, aber nicht bei seinem Lehrer. Beide Brüder kamen auf das Gymnasium, danach auf die Universität, ihre Charaktere blieben gleich. Der eine erhielt viel Lob wegen seines Fleißes und der Tugend, der andere erhielt das Zeugnis eines leichtsinnigen, hüpfenden Jünglings. Carls liebste Beschäftigungen hatten mit Wein und Liebe zu tun. Bald versank er in Schulden, die so hoch waren, dass der Vater ihm die Gunst entzog. Er musste die Akademie verlassen.«

   Die Kellnerin irritiert:

   »Das ist eine traurige Geschichte.«

   Der Dachdecker lacht.

   »Warum? Bei ausreichend Wein und Liebe kann man auch ohne die Gunst des Vaters leben.«

   Schubart wehmütig:

   »Für Wein und Liebe braucht man Geld, dass man in jungen Jahren ohne die Gunst des Vaters nicht hat.«

   Der Kaufmann fährt fort:

   »Carl folgte der Fahne, ward ein Preuße, und wurde bei einer Schlacht verwundet. Er kam in ein Lazarett. Das Ächzen der Kranken, das Röcheln der Sterbenden und der brennende Schmerz seiner eigenen Wunde bewirkten, dass er sich entschloss, tugendhaft zu werden. Er schrieb dies seinem Vater, den er auch um Vergebung bat. Doch auf sein Brief erhielt er keine Antwort. Wilhelm, sein Bruder, hatte ihn unterschlagen, so dass er den Vater nie erreichte. Carl entschloss zu arbeiten, bei einem Bauern, als Knecht, ganz in der Nähe seines Vaters Landsitz. Er widmete sich mit viel Fleiß dem Feldbau und der Ökonomie. Sein gutes Herz und seine Geschicklichkeit machten ihn bald zum Liebling aller. Als er einmal mit Holzfällen im Wald beschäftigt war, hörte er plötzlich ein dumpfes Geräusch. Er schlich mit dem Holzbeil in der Hand hin und sah seinen Vater von verlarvten Mördern aus der Kutsche gerissen, den Postillion im Blute liegen und bereits den Mordstahl auf der Brust seines Vaters blinken.«

   Die Kellnerin ruft erschreckt:

   »Oh Gott!«

   Der Kaufmann erzählt nach einer kleinen Kunstpause im dramatischen Ton weiter:

   »Carl stürzte wütend unter die Mörder hinein, und sein Beil arbeitete mit so gutem Erfolg, dass er drei Mörder erlegte und den vierten gefangen nahm. Er setzte danach den ohnmächtigen Vater in die Kutsche und fuhr ihn zu seinem Rittersitz.«

   Die Kellnerin atmet erleichtert auf. Der Dachdecker beobachtet sie und grinst. Er nimmt einen großen Schluck aus seinem Glas, füllt dann alle Gläser auf dem Tisch nach.

   Der Kaufmann, erfreut dass seine Erzählung die Kellnerin so gefangen nimmt, fährt im dramatischen Ton fort:

   »Wer ist mein Engel?«, fragte der Vater, als er die Augen wieder aufschlug.

   »Kein Engel«, erwiderte Carl, den der Vater nicht erkannte, »sondern ein Mensch hat getan, was er als Mensch seinen Brüdern schuldig ist. Als Carl seinem Vater sagte, dass einer der Mörder noch am Leben ist, befahl dieser ihn herkommen zu lassen.«

   Wieder macht der Kaufmann eine kurze Kunstpause, dann erzählt er mit eindringlicher Stimme:

   »Der entlarvte Mörder kam, stürzte zu den Füßen des Edelmanns nieder, flehte um Gnade und sagte schluchzend, dass er im Auftrag des Junker Wilhelm gehandelt hat. Denn dem Wilhelm lebte der Vater zu lang, deshalb wollte er auf diese mörderische Weise in den Besitz des Vaters Vermögens gelangen.«

   Die Kellnerin ruft empört mit sich überschlagener Stimme:

   »So eine Gemeinheit!«

   Der Wirt schaut erstaunt auf seine Kellnerin.

   Der Kaufmann, ganz in der Rolle des engagierten Erzählers:

   »Der Vater schrie daraufhin verzweifelt: Jetzt hab ich überhaupt keinen Sohn mehr. Daraufhin gab sich Carl zu erkennen. Der Vater sprang aus dem Bett und nahm seinen wiedergewonnen Sohn in die zitternden Arme. Nach einer Weile, als der Vater wieder reden konnte, sagte er zu Carl: Du bist mein Erbe und Wilhelm, diese Brut der Hölle, will ich heut noch dem Arm der Justiz überliefern. Ach Vater, sagte hierauf Carl, vergeben Sie meinem Bruder!«

   Ungläubig schaut die Kellnerin den Kaufmann an.

   »Das hat er gesagt?«

   Der Dachdecker murmelt:

   »Ich hätt` das nicht gesagt.«