Ihre Browserversion ist veraltet. Wir empfehlen, Ihren Browser auf die neueste Version zu aktualisieren.
                                  START         Jo Specht                                                                             

Im Wirtshaus »Zum Baumstark« in Ulm

   Im Gastraum des Ulmer Wirtshauses Zum Baumstark sind anwesend: Der Handwerker, der Student, die Kellnerin und Schubart. Später kommen der Herr, ein eifriger Leser der Chronik, und der Zensor, der im Auftrag des Ulmer Magistrats die Artikel in der Chronik vor Veröffentlichung zensiert, hinzu.

   Handwerker und Student

   Die Chronik wurde von einfachen Handwerkern, nach Bildung, Aufklärung und Veränderung Strebenden sowie Vertretern des einfachen bis gehobenen Bürgertums gelesen. Diese Leserschichten werden durch den Handwerker, den Studenten und den Herrn vertreten.

   Kellnerin

   Schubarts freizügiges, draufgängerisches Verhältnis zum weiblichen Geschlecht wird durch die Kellnerin dargestellt.

   Zensor

   Die Pressefreiheit gab es zu Schubarts Zeiten nicht. Seine Artikel für die Deutsche Chronik wurden vor Veröffentlichung von der Obrigkeit, vom Magistrat der Freien Reichsstadt Ulm, auch Hoher Rat genannt, zensiert. Diese Aufgabe übernahm eine vom Magistrat eigens hierfür benannte Person, der Zensor. Mit ihm lag Schubart im Dauerstreit. Auf des Zensors Anordnung musste er vermeintlich anstößige oder kritische Artikel entschärfen oder streichen.

   Wirtshaus

   Schubart liebte die Wirtshausatmosphäre. Dort schlug das Herz des Volkes, dort war des Volkes Seele gegenwärtig, dort konnte man dem Volk aufs Maul schauen. Die Wirtshausstube war seine Informationsquelle und Redaktion. Von den Gästen erhielt er Anregungen und Meinungen für seine Artikel, die er größtenteils gleich vor Ort formulierte und wiederum mit den Gästen besprach. Für diese Szenerie steht das Wirtshaus Zum Baumstark.

   Szene

   In der Wirtshausstube sitzt Schubart am großen Stammtisch, liest Skripte und schlägt ab und zu in alten Chronik-Ausgaben nach. Sie liegen vor ihm ausgebreitet, bedecken über die Hälfte des Tisches. Er ist gut gelaunt. Mit am Tisch sitzen der Handwerker und der Student. Auf dem Tisch stehen drei Bierkrüge. Seitlich vom Tisch, im Hintergrund, ist die Theke, daneben eine große Standuhr. Hinter der Theke steht die Kellnerin und spült Gläser.

 

Von der Liebe und anderen Problemen

   Schubart lacht laut auf und fragt:

   »Und was haltet ihr davon?«

   Ohne eine Antwort abzuwarten liest er laut vor:

»Hier ist, o liebes Weibchen

Ein kleiner Wunsch für dich

Ich wünsche dir, mein Täubchen

Ein kugelrundes Leibchen

Und ach, zum Autor, mich!«

   Beifall heischend schaut er seine Tischnachbarn an.

   Der Handwerker grinst.

   »Nicht schlecht. Doch der Schluss gefällt mir nicht. Der müsst heißen - Und ach, zum Handwerker, mich! Ein Handwerker, wie ich einer bin, kann das viel besser. Das mit dem kugelrunden Leibchen.«

   Schubart lacht dröhnend und sagt zu ihm:

   »Was zu beweisen wär. Ich hab schon für einige runde Leibchen gesorgt. Und du?« Selbstgefällig nimmt er einen großen Schluck aus seinem Bierkrug.

   Der Handwerker zuckt die Achseln.

   »Weiß ich`s? Ich will`s auch nicht wissen, denn sonst müsst ich zahlen. Vielleicht hab ich schon einige runde Leibchen gemacht? Könnt schon gut möglich sein.«

   Die Kellnerin hinter der Theke, die den Männern am Tisch zuhört, schüttelt den Kopf, sagt aber nichts.

   Der Student, bemüht ein ernstes Gesicht aufzusetzen, zum Handwerker und zu Schubart gewandt antwortet:

   »Ihr überseht etwas Wesentliches. Warum überhaupt ein rundes Leibchen? Das muss nicht sein! Ich find´s am besten, wenn ich weiß, sie kriegt kein rundes Bäuchlein - von mir. So kann sie mich auch nicht festnageln wollen.«

   Der Handwerker zum Studenten feixend:

   »Und wie willst du´s verhindern?«

   Der Student grinst.

   »Indem du mit ihr danach ein Bad in Brennnesselsud nimmst. Brennnesselsud ist gut für den Kreislauf, gut für die Haut, auch für ein paar Organe, und verhindert bei ihr einen dicken Bauch. Wie heißt es doch so schön:

Nimmt sie danach ein Sudelbad fein

Bleibt ihr Bäuchlein schön und rein.«

   Die Kellnerin schaut den Studenten an und tippt mit einem Finger an die Stirn.

   Der Handwerker ruft angewidert:

   »Brennnesselsud? Igitt!«

   Der Student von oben herab:

   »Du brauchst ja keins zu nehmen. Oder doch? Vielleicht hilft`s auch gegen deine Bierwampe?«

   Schubart ernst zum Studenten:

   »Das hab ich auch schon probiert.«

   Der Student fragt verwundert:

   »Du?«

   Schubart winkt ab.

   »So ein Bad hilft nur bei einer durchschnittlichen Manneskraft. Die Frau, mit der ich zusammen war, hat sehr viel Kraft erhalten. Da hilft so ein Bad nicht.«

   Überrascht schaut die Kellnerin Schubart an, schüttelt den Kopf und tippt wieder mit dem Finger gegen die Stirn.

   Der Student verzieht das Gesicht.

   »Angeber!«

   Schubart brüllt zum Studenten rüber:

   »Du Dummschwätzer!« und hebt ein weiteres Blatt Papier hoch.

   »Was haltet ihr von dem Verslein? –

Durchs Winterfenster schlüpft ein weißes Flöckchen

Und fällt auf ihre Brust

Bläht sich und schmilzt mit einem Seufzer

Röschen, dein Busen ist weißer als ich!«

   Der Handwerker träumerisch:

   »Oh, so ein zarter, schneeweißer Busen, lieblich gerundet, mit hellroten Knospen. Das ist schon etwas sehr Schönes.«

   Der Student ebenfalls träumerisch:

   »Hast Recht! Doch groß muss er sein, damit man das Gesicht drin vergraben kann.«

   Schubart lacht wieder dröhnend auf.

   »Ich sehe, mein Verslein versetzt euch in Ekstase. Es rührt eure Träume. So muss es sein. Ich will euch noch etwas geben. Hört her! -

Ein Kupferstecher stach

Ein Kind in einer Wiege

Wie schön! Die Unschuld sprach

Aus jedem seiner Züge

Ein schönes Mädchen sah in Ruh

Dem schlauen Kupferstecher zu

Sie spricht - so süß, wie Mädchen sprechen

Mit Unschuld im Gesicht

Ach! Können Sie denn nicht

Mir auch ein solches Kindchen stechen?

Der Künstler lacht, und geht

Die Schöne schleicht ihm nach

Nun weiß ich weiter nicht

Was er dem Mädchen stach.«

   Die Männer am Tisch grölen. Der Handwerker brüllt:

   »Ja, was hat er ihr wohl gestochen?«

   Die Kellnerin ruft entrüstet:

   »Was für kindische Mannsbilder ihr doch seid!«

   Die Männer lachen noch lauter. Während der Handwerker und Schubart sich zuprosten, aus ihren Krügen trinken, kramt der Student in den Skripten vor Schubart. Dann hebt er ebenfalls ein Blatt Papier hoch. Zur Kellnerin gewandt ruft er:

   »Lieschen, da ist etwas für dich. -

Rot wird mein Gesicht

Wenn der Michel spricht

Runter mit dem Mieder

Liesel leg dich nieder.«

   Ärgerlich stampft die Kellnerin mit dem Fuß auf den Boden. Aufgebracht schimpft sie:

   »Das ist gemein! Ihr seid gemein! Schämt euch! Schubart, hast du das wirklich geschrieben? Das hätt ich nicht von dir gedacht!«

   Der Handwerker trocken zur Kellnerin:

   »Denk nicht, bring mir lieber noch`n Krug.«

    Herausfordernd hält er ihr seinen leeren Bierkrug entgegen.

   Der Student grinst, deutet auf die Kellnerin und liest weiter vor:

»Sie schafft dir früh, und schafft dir spät

Das gibt einmal ein Weib

Wenn sie die runde Spindel dreht

So hüpft mir´s Herz im Leib.«

   Der Handwerker unterbricht brüllend:

   »Wenn eine an meiner Spindel dreht, hüpft bei mir nicht das Herz!«

   Schubart zur Kellnerin, die vor dem Handwerker einen vollen Bierkrug mit Wucht auf den Tisch stellt und eine Handbewegung macht, als ob sie ihm eine Ohrfeige verpassen möchte:

»Liesel, nimm Schnee mit Blut getuscht

Und male mir die Brust

Den Thron der Liebe und der Lust.«

   Die Kellnerin dreht sich zu Schubart und hebt gegen ihn drohend die Hand.

   »Ich mal dir gleich ganz irgendwo anders etwas. Dann vergeht dir die Lust.«

   Schubart schaut sie belustigt an, überlegt kurz, dann singt er, während er mit den Händen den Takt anzeigt:

»Sieh, ich bin dir doch so gut

Mehr noch, als mein eigen Blut

Sei mirs auch ein bisschen

Lieb mich doch, mein Lieschen«

   Die Kellnerin ärgerlich:

   »Was für ein Flattieren! Ich glaub dir kein Wort!«

   Schubart mit todtrauriger Mine:

   »Du glaubst mir nicht? Du weist mich ab? Amor, wo sind deine Pfeile? Warum hast du nur mich und nicht auch sie getroffen? –

Jetzt muss ich viele Höllenqualen erleiden

Draußen - im Dunkeln, am Bach

Zwischen traurigen, angsteinflößenden Weiden.«

   Die Kellnerin spöttisch:

   »Werf dich gleich in den Bach. Das kalte Wasser wird dir gut tun. Du, mit deiner derben Sprache.«

   Schubart immer noch gespielt todtraurig zur Kellnerin:

   »Für meine Sprache kann ich nichts. Sie ist in Aalen, da wo ich aufgewachsen bin, zuhaus. Die Stadt, die verkannt wie die redliche Einfalt, schon viele Jahre im Kochertal genügsame Bürger nährt. Bürger von altdeutscher Sitte, bieder geschäftig, wild und stark wie ihre Eichen, trotzige Verteidiger ihres Kittels, ihrer Misthaufen und ihrer donnernden Mundart. Was in Aalen gewöhnlicher Ton ist, scheint für dich, meine Liebe, Raserei zu sein. Komm lass uns gehen, ich zeig dir mein ach so lieblich, einfältig Heimatnest.«

   Die Kellnerin schüttelt heftig den Kopf.

   »Nie und nimmer! Keine zehn Pferde bringen mich dort hin. Da lob ich mir Ulm, wo die Männer galanter sind - euch drei ausgenommen.«

 

Vom Wunderkind bis zur Selbstgefälligkeit

   Der Student stichelnd zu Schubart:

   »Du kommst von Aalen? Gibt´s dort überhaupt eine Schule? Das Schreiben kannst du doch dort nicht gelernt haben.«

   Schubart droht dem Studenten mit einer Faust, sagt aber dann lachend:

   »Zuerst, in meinen jungen Jahren, ließ ich tatsächlich wenig Talent blicken, dagegen mehr Hang zur Unordnung und Trägheit. Ich warf meine Schulbücher in den Bach, war dumm, schlief ständig und ließ mich schafsmäßig führen. Im siebten Jahre konnte ich weder lesen noch schreiben.«

   Der Student haut mit der flachen Hand auf den Tisch und ruft vergnügt:

   »Wusst ich`s doch!«

   Schubart schüttelt den Kopf und sagt ernst:

   »Plötzlich sprang die Rinde. Im achten Jahr übertraf ich meinen Vater schon am Klavier, sang mit Gefühl, spielte Violine, unterwies meine Brüder in der Musik und setzte im neunten und zehnten Jahre Galanteriestücke und Kirchenstücke auf.«

   Der Student skeptisch:

   »In Aalen, bei den Verteidigern ihrer Misthaufen, da kann es mit dem Klavier und der Violine nicht weit her sein.«

   Schubart gespielt entrüstet:

   »Nimm zur Kenntnis, dass ich ein Wunderkind war.«

   Der Student zweifelnd:

   »Soll ich`s auch glauben?«

   Schubart blickt ihn strafend an.

   Der Student sagt schnell lachend:

   »In Ordnung, ich glaub`s.«

   Schubart antwortet selbstgefällig:

   »Ja, ich war ein Wunderkind und jetzt bin ich ein Genie. Der Allmächtige hat`s so gewollt. Mittellos und sofort musste ich auf herzogliche Anordnung Ludwigsburg verlassen. Trotzdem ging es mir danach gut, in Heilbronn, Heidelberg, Mannheim und München. Wieder mittellos, sogar zu Fuß, bin ich dann in Augsburg angekommen. Wohnte bei einem Bierwirt, lernte in der Weberkneipe Zum Walfisch viele gute Freunde kennen, die mich einluden. Drei Wochen später war ich wieder wer. Eine bedeutende Persönlichkeit in dieser Stadt. So etwas ist doch nur bei einem Wunderkind und Genie möglich, meint ihr nicht auch?«

   Der Handwerker nüchtern:

   »Zunftleute, wie die Weber, haben dir geholfen. Das ist pure Barmherzigkeit.«

   Schubart nickt.

   »Weil sie das Besondere ihn mir gesehen haben.«

   Der Student laut zu sich selbst:

   »Nach Bildung strebe ich, ich sollt`s auch bei der Einbildung tun. Das scheint sich zu lohnen.«

   Wieder kramt der Student in den Skripten auf dem Tisch. Wieder hält er ein Blatt hoch, lacht und liest zu Schubart gebeugt laut vor:

   »O, du Wunderkind ... „

   Schubart gespielt drohend zum Studenten:

   »Sei nicht frech! In Augsburg wurde ich Journalist. Da kam die Chronik, die noch heute zu einem billigen Preis auf jedem Postamt in Deutschland gekauft werden kann. Das schafft nur ein Wunderkind und Genie.«

   Der Student nickt, sagt »ja, ja«, schaut konzentriert auf das Blatt Papier in seiner Hand und antwortet mit betroffenem Gesichtsausdruck:

   »In Aalen sollten wohl nur die Jungen, die Knaben, schreiben und lesen lernen.«

   Ernst und betont langsam liest er vor:

»Ich Mädchen bin aus Schwaben

Und braun ist mein Gesicht

Der Sachsenmädchen Gaben

Besitz` ich freilich nicht

Das Tändeln, Schreiben, Lesen

Macht Mädchen widerlich

Der Mann, für mich erlesen

Der liest einmal für mich.«

   Schubart antwortet streng:

   »Das richtet sich gegen die Französelei. Diese Sachsenmädchen lieben das Französische, das Affektierte. Auch bei uns ist es leider schon stark verbreitet. Dabei bleiben die guten schwäbischen Sitten auf der Strecke.«

   Der Handwerker grinsend:

   »Mir ist ein lockeres Sachsenmädchen lieber, als ein sittenstrenges, schwäbisches Mägdelein, dem ich dann auch noch vorlesen muss.«

   Schubart zum Studenten und zum Handwerker belehrend:

   »Es geht um die Sachsen und die Schwaben. Dummer Schwabe ist, wie ihr wisst, ein schändliches Sprichwort, das in Sachsen jeder Straßenjunge weiß. Man nennt die Schwaben dumm! - Ha, haben sie nicht Deutschland weise Herrscher wie die Staufer gegeben? Haben nicht die Schwaben in den Zeiten der Minnesänger, die man das Schwäbische Zeitalter nennt, herrliche Dichter aufgestellt, die es mit unseren heutigen Liederdichtern aus allen Teilen Deutschland aufnehmen? Haben sie nicht das Gefühl der edlen Freiheit von jeher gehabt? Wo findet man mehr Freie Reichsstädte als in Schwaben, die sich durch weise Gesetze selbst regieren und dabei ihre Freiheit schützen?«

   Der Student vergnügt zum Handwerker:

   »In Sachsen schimpft man uns als dumm und hierzuland? Da machen sich die Mädchen für die Arbeit, nicht aber für die Liebe krumm.«

   Schubart anerkennend:

   »Das hätt` von mir sein können.«

   Die Kellnerin, immer noch ärgerlich, zu Schubart:

   »Hast du das wirklich alles in der Chronik geschrieben? Alles, was der da«, sie zeigt auf den Studenten, »vorgelesen hat?«

   Der Student zur Kellnerin vergnügt und belehrend:

   »Er schreibt doch immer die ganze Chronik. Da kommt niemand anders ran. Ich hab` nur veröffentlichte Artikel vorgelesen.«

   Der Handwerker ruft dazwischen:

   »Ich auch!«

   Schubart nachdenklich zum Studenten:

   »Ich denke schon, das ein anderer gut in meine Fußstapfen treten könnt`.«

   Der Student stichelt:

   »Das glaubst du doch selbst nicht. Dafür bist du viel zu eitel.«

   Schubart spielt den Gekränkten.

   »Mein Sohn, dir fehlt es an Respekt! Doch ich bin nachsichtig, bei der Jugend immer.«

   Der Handwerker dazwischen:

   »Doch bisher nur bei der weiblichen Jugend!«

   Schubart winkt ab. Langsam und ernst sagt er:

   »Ich mein` schon, dass der Johann Martin Miller, unser junger evangelische Pfarrer und mein lieber Freund, wenn ich einmal nicht mehr da sein sollt`, die Chronik auch machen könnt`.«

   Der Student schaut Schubart zweifelnd an.

   »Ihm fehlt deine Selbstgefälligkeit, deine Arroganz. Ach ja, auch deine schreibende Gabe. Kurzum, er ist kein Wunderkind und Genie, so wie du.«

   Schubart greift zum Bierkrug und antwortet überlaut:

   »Den Geist dieser Worte will ich nicht wissen, er könnt` falsch sein, was mich dann ärgern könnt`. Nur die Worte selbst will ich vernehmen. Und die Worte für sich gesehen sind richtig und wahr.«

   Er klopft sich selbst auf die Schulter und ruft:

   »Schubart, du bist ein prima Kerl! Ich mag dich! Auf dein Wohl trink ich!«

 

Für den Herzog und die Pfaffen zum Ärgernis

   Der Student ernst:

   »Ein prima Kerl, der sich auch mit Pfaffen und Fürsten anlegt. Nein, jetzt mein ich`s ehrlich! Das mit dem prima Kerl.«

   Wieder hebt er ein Blatt Papier aus dem Skriptstapel auf dem Tisch hoch und liest vor:

   »Eine Sage - Karl Eugen, der Herzog von Württemberg, soll 3.000 Mann an England überlassen, und dies soll die Ursache seines gegenwärtigen Aufenthalts in London sein.«

   Nach einer kurzen Pause liest er weiter.

   »Hier ist eine Probe der neuesten Menschenschätzung. Der Landgraf von Hessen-Kassel bekommt jährlich 45.000 Taler für seine 12.000 tapferen Hessen, die größtenteils in Amerika ihr Grab finden werden. Der Herzog von Braunschweig erhält 65.000 Taler für 3.964 Mann Fußvolk und 360 Mann leichter Reiterei, wonach unfehlbar sehr wenige ihr Vaterland wiedersehen werden. Der Erbprinz von Hessen-Kassel gibt ebenfalls ein Regiment Fußvolk ab, um den Preis von 25.000 Taler. 20.000 Hannoveraner sind bekanntlich schon nach Amerika bestimmt und 3.000 Mecklenburger für 50.000 Taler auch. Nun sagt man, der Kurfürst von Bayern werde ebenfalls 4.000 Mann in englischen Sold geben. Ein furchtbarer Text zum Predigen für Patrioten, denen s`Herz pocht, wenn Mitbürger das Schicksal von Negersklaven haben und als Schlachtopfer in fremde Welten verschickt werden.«

   Der Student schaut Schubart an und sagt nachdenklich:

   »Das dürft` die betreffenden Fürsten und vor allem den Herzog von Württemberg gewaltig jucken.«

   Der Handwerker winkt ab.

   »Warum soll er sich über diesen Artikel aufregen? Der Herzog ist doch so gut wie gar nicht genannt.«

   Der Student zum Handwerker eindringlich:

   »Verstehst du denn nicht? Jedes Kind weiß doch, dass der Herzog von Württemberg auch Landeskinder als Soldaten verkauft, um sein feudales Leben und seine Phantastereien weiter finanzieren zu können.«

   Schubart nickt, kratzt sich mit beiden Händen am Kopf. Widerwillig sagt er zum Studenten und zum Handwerker:

   »Das ist richtig! Karl Eugen hat bereits 1757, ohne Einverständnis der Landesstände, gut 6.000 Württemberger an Frankreich, für den Kampf gegen Preußen, abgetreten. Danach verkaufte er weitere Landeskinder an andere Länder, zum Schutze seiner wirtschaftlichen Interessen, wie es heißt. Offiziell waren es Freiwillige, doch in Wirklichkeit hat man ganze Dörfer umstellt und die jungen Burschen einfach zur Unterschrift gezwungen. Viele dieser Pseudo-Soldaten rebellierten und desertierten. Daraufhin ordnete der Herzog standrechtlich Erschießungen der Aufsässigen an. Die Landeskinder in den Uniformen, die in die Fremde gehen mussten oder noch müssen, finden dort gewöhnlich auch ihr Grab.«

   Der Handwerker, der das Thema wechseln will, zu Schubart lachend:

   »Du ärgerst den Herzog, dabei warst du ihm doch einst so nah.«

    Er lacht lauter.

   »Eigentlich eher des Herzogs Mätresse, Franziska von Leutrum.«

   Zum Student sagt der Handwerker mit einer doppelsinnigen Geste:

   »Ihr hat er auf Schloss Solitude Klavierunterricht erteilt.«

   Schubart geschmeichelt:

   »Das mit der Franziska ist schon lang her. Überhaupt, ich bin ein Kavalier und ein Kavalier schweigt. Deshalb sag ich zu dieser Sache nichts!«

   Der Student grinsend zum Handwerker:

   »Klavierunterricht, haha!«

   Der Handwerker feixt:

   »Doch von der Lieb ... äh, dem Klavierunterricht ist nicht viel übrig geblieben. Was hat er doch in der Chronik geschrieben, als sie mit dem Herzog hier in Ulm war? - Der Herzog ist hier durchpassiert, seine Donna Schmergalina - gemeint ist jene Klavierschülerin und Mätresse - saß neben ihm wie Mariane an Achmets Seite. Aller Fürstenglanz ist in meinen Augen nicht mehr als - das Glimmen einer Lichtputze - es glimmt und stinkt.«

   Der Student zu Schubart ernst:

   »Das erregt natürlich des Herzogs Ärger.«

   Der Handwerker fröhlich dazwischen:

   »Und seiner einstigen Mätresse, die jetzt die Herzogin ist.«

   Der Student nachdenklich:

   »Schubart, auch dein in der Chronik veröffentlichter Lob an des Herzogs Nachbar, dem Markgrafen von Baden-Durlach, dürfte dem Herzog von Württemberg nicht gefallen. Wie hast du geschrieben? - Unter der weisen Regierung des Markgrafen von Baden-Durlach gehöre das Ländchen zu den glücklichsten und besteingerichtesten Staaten der Welt, auf das andere Provinzen mit nachahmender Eifersucht hinblicken.«

   Der Handwerker mit skeptischer Miene zum Studenten:

   »Das ist politisch! Anspielungen auf Karl Eugen, den Hurenbock und Mädchenentehrer, den gewerbsmäßigen Deflorateur, Anspielungen auf diese seine liebste Beschäftigung dürften ihn mehr treffen. In der Chronik stand doch auch –

Gleich einem Stutzer balsamiert

Lies nun der Geißbock hochfrisiert

Sich mäkernd also hören

Nimm hin die Kunst zum Zeitvertreib

Der Witwe Kind, des Armen Weib

Hochfürstlich zu entehren.«

   Schubart lacht selbstsicher.

   »Was soll`s? Alles was ihr sagt, setzt voraus, dass er`s versteht. Und da hab ich meine Zweifel.«

   Der Student warnend:

   »Du unterschätzt ihn!«

   Schubart belustigt:

   »Nein, ich kenn ihn! Ich kann mir nicht vorstellen, dass er folgende Geschichte, in der Chronik veröffentlicht, mit sich in Einklang bringt. Dafür ist er zu gottgewollt. -

Ganz Isfahan staunt über das große Genie des Schahs, der es in kurzer Zeit so weit brachte, dass er seiner liebsten Beischläferin ein Halstuch stricken konnte. Man behauptet, dass dieser weise Monarch die große Summe, welche sonst unnötiger Weise für die Armen, Witwen, Waisen, für die Unterstützung verfallener Handelshäuser, für die Belohnung der Gelehrten und Ausbauung des Lande bestimmt war, zur Errichtung eines prächtigen Hauses für Gaukler und Taschenspieler verwenden werde.«

   Der Student nickt anerkennend.

   »Das ist gut, aber gewagt! Der Herzog unterstützt nicht sein Volk, sondern die Gaukler und Taschenspieler um ihn herum. Leute von adligem Blut. Wenn nicht der Herzog selbst, dann die anderen, die werden deine Anspielungen verstehen.«

   Der Handwerker schüttelt den Kopf.

   »Nein, das verstehen nur wir, die wir hier sitzen, und noch ein paar andere, halt unseresgleichen.«

   Zu Schubart gewandt sagt er:

   »Nur wir wissen, wer mit dem Hutmacher Städele in Memmingen gemeint ist, den du auch in der Chronik beschrieben hast.«

   Schubart macht ein verstellt ernstes Gesicht und zitiert:

»Hanns Marx von hochgebornem Blut

Bestellt bei dir `nen neun Hut

Recht fein gestutzt, klein, flüchtig, süß

Nach Geckenmode in Paris

Oh Städele, sei doch so gut

Mach ihm den Kopf gleich mit dem Hut.«

   Der Handwerker zum Studenten:

   »Das versteht dieser selbstherrliche Despot in Württemberg nie im Leben - leider!«

   Der Student ernst:

   »Die anderen, die verstehen`s. Die werden es ihm sagen.«

   Der Handwerker, der in Chronik-Ausgaben auf dem Tisch zu lesen beginnt, zieht eine Ausgabe zu sich heran und liest laut:

»Reiche rasseln mit dem Wagen

Fett vom Hafer ist ihr Pferd

Rasselt nur, dass ihr die Klagen

Eines armen Mannes nicht hört.«

   Der Student nachsichtig:

   »Na ja, das dürften der Herzog und die Seinen tatsächlich nicht verstehen. Oder nicht ernst nehmen.«

   Die Kellnerin engagiert zu den Männern am Tisch:

   »Es stimmt aber! Die Sorgen eines armen Untertan haben diesen Herzog noch nie interessiert. Meines Vaters Bruder ist Bauer, drüben bei Heidenheim, wo der Herzog allzu oft zur großen Jagd auf Sauen und Hirsche blasen lässt. Vor allem die Sauen setzen den Feldern meines Verwandten arg zu. Doch selbst für Abhilfe darf er nicht sorgen. Auf herzoglichen Befehl muss er die Sauen in Ruhe seine Felder verwüsten lassen. Und dann, wenn Jagd ist, müssen alle ihre Arbeit liegen lassen und als Treiber zur Verfügung stehen, kostenlos natürlich. Ab und zu kriegen sie nur einen aus Versehen erschossenen Feldhasen.«

   Der Handwerker nickt der Kellnerin zu.

   »Das stimmt! Im Oberamt Heidenheim mussten für die fürstliche Jagd rund 6.000 Morgen Land brach liegen gelassen werden. Trotzdem mussten die Leute dort für dieses Land die vollen steuerlichen Abgaben entrichten. 1764 überließ der Herzog dann Heidenheim den Forst gegen ein Darlehen von 25.000 Gulden. Kaum hatte er das Geld in Händen, zog er den Forst wieder an sich, ohne sich um die Rückzahlung des Geldes zu kümmern.«

   Schubart überlegt laut:

   »Eine interessante Geschichte. Das wär` was für die Chronik.«

 

Vom Zeitungsschreiben und Zeitungsmachen

   Der Handwerker zu Schubart anerkennend:

   »Das glaub ich dir. Du traust dich, darüber zu schreiben.«

   Schubart geschmeichelt:

   »Ich bin kein ängstlicher Zeitungsschreiber! Eine Zeitung, ich mein`, der, der die Zeitung macht, muss seine Leser über Ungerechtigkeiten informieren. Diese natürlich auch kommentieren. Der darf nicht ruhig sein.«

   Der Student deutet auf die Chronik-Ausgabe auf dem Tisch.

   »Wir kennen deine Meinung. Die schreibst du ja in der Chronik.«

   Suchend wühlt er in den Ausgaben.

   »Wo ist sie denn? Gerade hab ich sie noch gesehen.«

   Schubart hebt seinen Bierkrug hoch.

   »Es stimmt! Die Chronik bin ich. Prost!«

   Der Student nickt.

   »Ah, da ist sie ja!«

   Er liest vor:

   »Wie ängstlich ihr Zeitungsschreiber euren Lesern jeden Bückling vorerzählt, den die Majestäten und Durchlauchten der Menge zunickten. Das kalte Belächeln des Höflings ist euch lieber als der zürnende Eifer, womit der Patriot seine ausgearteten Zeitgenossen bestraft. Und der Anblick einer Königstafel, wo hundert Speisen aus goldenen Schüsseln aufdampfen, ist euch wichtiger, als der arbeitende Bauer, der schwitzende Bürger, der unter Sorgen und Armut jene Speisen und Schüsseln herbeischaffte.«

   Schubart nickt dem Studenten zu und ergänzt:

   »Unter allen kriechenden Kreaturen des Erdbodens ist der Zeitungsschreiber die Kriechendste. Wie er da mit kindischer Bewunderung den Pomp der Großen anstaunt? Wie er mit dem Hütlein unterm Arm krumm und sehr gebückt im Vorsaal steht und den niesenden Fürsten und Höflingen sein Salus entgegenkeucht?«

   Der Student lacht.

   »Wir wissen, du redest gottlob nicht von dir, obwohl du auch ein Zeitungsschreiber bist. Du schreibst anders!«

   Schubart salbungsvoll:

   »Mein Verstand, mein Herz, mein Kampf für die Freiheit, mein Patriotismus gehört dem Volk. Den Armseligen, denen ich Mut machen möcht`.«

   Der Handwerker, der die Chronik-Ausgabe dem Studenten aus den Händen gezogen hat, liest laut:

   »Alle unsere Zeitungen sind nichts anderes als wiedergekäutes Gewäsch von Alltagsgeschichten und Lobsprüchen auf Regenten, die wir nicht einmal kennen. Den Zeitungsschreiber möchte ich sehen, der vors Publikum hinträte und mit Gewitterberedsamkeit spräche: Fast jeder Fürst legt seinen Untertanen unerträgliche Lasten auf, verkannt werden die Grundgesetze der Menschlichkeit. Es klirren die Fesseln des schrecklichsten Despotismus. Da leckt ein gieriger Selbstherrscher an den Grenzen einer friedsamen Republik. In jenem Freistaat ächzt der Freigeborene unterm Fußtritt des Archonten. Hier oder da oder dort schleicht der Aberglaube schwarz wie die Nacht und verbirgt den blinkenden Dolch unterm Priestergewand. Eine solche Zeitung, die das Unrecht offen zur Sprache bringt, möcht` ich gern lesen.«

   Der Student, bewundernd:

   »Das ist geschickt gemacht! Du schreibst, dass du solch eine Zeitung lesen möchtest und weißt doch genau, dass du solch eine Zeitung lesen kannst - die Chronik.«

   Der Handwerker nüchtern:

   »Und wie lange noch? Die Feinde formieren sich.«

   Der Student gereizt:

   »Halt`s Maul! Denk lieber an die Mädchen, die du unglücklich gemacht hast!«

   Der Handwerker empört:

   »Ich?«

 

Literaturbesprechungen mit Resonanz

   Die Tür zur Gaststube geht auf, ein gutgekleideter Herr kommt herein. Bleibt stehen, orientiert sich kurz und geht dann freudig auf Schubart zu. Der Herr, etwas außer Atem, zu Schubart:

   »Herr Schubart? Von der Chronik?«

   Schubart argwöhnisch:

   »Vielleicht ... Was will er denn?«

   Der Herr freudig:

   »Sie sind`s! Es freut mich, euch endlich einmal persönlich kennen zu lernen. Ich bin ein eifriger Leser von euch. Nie möcht` ich eure Zeitung missen.«

   Schubart lächelt gönnerhaft.

   »Ich seh`, ihr seid ein gebildeter Mann. Möchtet ihr ein Bier?«

   Schubart zeigt auf einen freien Stuhl am Tisch und winkt der Kellnerin, die sogleich einen vollen Bierkrug vor dem Herrn auf den Tisch stellt.

   Schubart wohlwollend und neugierig:

   »Was gefällt euch denn so?«

   Der Herr immer noch etwas außer sich:

   »Alles, ich lese alles! Das Politische und das Schriftstellerische.«

   Schubart lächelt geschmeichelt.

   »Das Schriftstellerische auch? Dabei halt` ich mich hier noch zurück. Bei den vielen politischen Sachen kommt das Schriftstellerische von mir leider zu kurz.«

   Der Herr irritiert:

   »Ich meine das Schriftstellerische beispielsweise von Herrn Goethe.«

   Schubart ernüchtert:

   »Ah, das vom Goethe.«

   Der Herr bewundernd:

   »Euer Bericht über Goethes Roman Die Leiden des jungen Werthers hat mich tief beeindruckt. Danach hab` ich gleich das Buch bestellt.«

   Schubart mäßig interessiert:

   »So, so.«

   Der Herr in Gedanken:

   »Beim Lesen zerfloss auch mir das Herz!«

   Dann zu Schubart gewandt:

   »Genauso wie bei euch.«

   Schubart lässig:

   »Fürwahr, ein vortreffliches Buch. Hab ich das so geschrieben, dass mir das Herz beim Lesen zerflossen ist?«

   Der Student zum Handwerker kopfschüttelnd, mit einer Handbewegung zu Schubart hin:

   »Jetzt will er im Lob baden.«

   Der Herr, der gehört hat, was der Student sagte, etwas verunsichert zu Schubart:

   »Ja, das habt ihr, und mir ist es ebenso ergangen. Ich weiß, ihr könnt nicht alle Texte, die ihr geschrieben habt, im Kopf haben. Doch ich habe den Bericht bei mir.«

   Umständlich kramt er in seiner Jackentasche und holt eine sorgfältig zusammengefaltete Seite aus einer Chronik-Ausgabe hervor.

   Schubart lässig und selbstgefällig:

   »Was hab` ich denn da geschrieben?«

   Der Handwerker, dessen Arme auf dem Tisch liegen, lässt den Kopf auf die Arme sinken, atmet hörbar aus, und sagt zum Studenten:

   »Jetzt hebt er gleich ab. Ohne Lob ist er nichts. Mit Lob ist er der größte Pfau.«

   Der Student blickt auf Schubart, zieht eine Grimasse und antwortet dem Handwerker:

   »Du sagst es!«

   Der Herr liest aus der mitgebrachten Zeitungsseite mit tiefer Stimme langsam, beinah jedes Wort betonend, vor:

   »Da sitz ich mit zerflossnem Herzen, mit klopfender Brust, und mit Augen, aus welchen wollüstiger Schmerz tröpfelt, und sag dir, Leser, dass ich eben die Leiden des jungen Werthers von meinem lieben Goethe - gelesen? - nein, verschlungen hab. Kritisieren soll ich? Könnt ichs, so hätt ich kein Herz. Göttin Critica steht ja selbst vor diesem Meisterstück des allerfeinsten Menschengefühls aufgetaut da. Mir wars, als ich Werthers Geschichte las, wie der Rahel im Gesang des Messias, wie sie im himmlischen Gefühl zerrann und unter dem Gelispel des wehenden Bachs erwachte.«

   Der Handwerker hebt sich andeutungsweise die Ohren zu und sagt zum Studenten:

   »Oh Gott, das Geschwafel versteht keine Sau. Das Buch muss von Göttern handeln. So etwas interessiert mich nicht.«

   Der Student zuckt geistesabwesend die Achseln. Er hört aufmerksam dem Herrn zu.

   Der Herr liest konzentriert, langsam weiter:

   »Ein Jüngling, voll Lebenskraft, Empfindung, Sympathie, Genie, so wie ungefähr Goethe, fällt mit dem vollen Ungestüm einer unbezwinglich haftenden Leidenschaft auf ein himmlisches Mädgen. Die ist aber schon verlobt und vermählt sich mit einem braven Manne. Aber dieses Hindernis verstärkt nur Werthers Liebe. Sie wird immer unruhiger, heftiger, wütender, und nun - ist jede Wonne des Lebens für ihn der Tod. Er entschließt sich zum Selbstmord und führt ihn auch aus.«

   Der Handwerker schlägt sich mit der flachen Hand gegen die Stirn:

   »Bescheuert! Für ein Weib, das man nicht kriegen kann, in den Tod gehen? Das soll auch noch eine Wonne sein? Das ist krank!«

   An die Theke gelehnt steht die Kellnerin und hört dem Herrn mit verklärtem Blick zu. Mit weinseliger Stimme sagt sie:

   »Das ist wahre Liebe!«

   Der Handwerker dreht sich schnell zur Kellnerin und sagt wütend:

   »Liebe? Wenn er tot ist? Nur Lebende können lieben. Du spinnst!«

   Die Kellnerin gekränkt:

   »Was verstehst du von der Liebe? Nichts! Deine Liebe ertränkst du in Brennnesselbädern.«

   Der Handwerker lacht höhnisch und zeigt auf den Studenten.

   »Das mit den Brennnesseln ist er. Ich hau vorher ab.“

   Ärgerlich schüttelt er den Kopf, hebt seinen Bierkrug hoch und sagt laut vor sich hin:

   »Von der Liebe und vom Bier versteh` ich viel. Mir reicht´s.«

   Aus dem Krug genehmigt er sich einen kräftigen Schluck.

   Der Herr liest mit tiefer Stimme bedeutungsvoll weiter:

   »Diesen simplen Stoff weiß der Verfasser mit so viel Aufwand des Genies zu bearbeiten, dass die Aufmerksamkeit, das Entzücken des Lesers mit jedem Briefe zunimmt. Da sind keine Episoden, die den Helden der Geschichte, wie goldnes Gefolg einen verdienstlosen Fürsten, umgeben. Der Held, er, er ganz allein, lebt und webt in allem, was man liest. Er, er steht im Vordergrund, scheint aus der Leinwand zu springen und zu sagen - Schau, das bin ich, der junge lebende Werther, dein Mitgeschöpf!«

   Handwerker murmelt vor sich hin:

   »Ein armselig verrücktes Mitgeschöpf!«

   Der Herr liest konzentriert weiter.

   »So musst ich volles irdenes Gefäß am Feuer aufkochen, aufsprudeln, zerspringen. - Die eingestreuten Reflexionen, die so natürlich aus den Begebenheiten fließen, sind voll Sinn, Weltkenntnis, Weisheit und Wahrheit. Thomsons Pinsel hat nie richtiger, schöner, schrecklicher gemalt als Goethes. Soll ich einige schöne Stellen herausheben? Kann nicht; das hieße mit dem Brennglas Schwamm anzünden und sagen - Schau, Mensch, das ist Sonnenfeuer! - Kauf`s Buch, und lies selbst! Nimm aber dein Herz mit! - Wollte lieber ewig arm sein, auf Stroh liegen, Wasser trinken und Wurzeln essen, als einem solchen sentimentalischen Schriftsteller nicht nachempfinden können. Ist bei Stage zu haben.«

   Schubart zurückhaltend:

   »Ja, manchmal land` ich im Metaphysischem. Ich erinner` mich. Das Buch ist in der Tat ganz ordentlich. Und habt ihr es bei Stage gekauft?«

   Der Handwerker wieder laut zu sich selbst:

   »Ich hätt`s nicht gekauft!«

   Der Herr schaut kurz auf den Handwerker, schüttelt irritiert den Kopf, und sagt zu Schubart:

   »Natürlich! Sofort bin ich eurer Empfehlung gefolgt und hab danach das Werk regelrecht verschlungen.«

   Schubart nickt wohlwollend.

   Der Handwerker deutet auf den Herrn und sagt zum Studenten:

   »Vielleicht ist er auch in eine verliebt, die er nicht kriegen kann. Will jetzt das Zeitliche segnen. Die Liesel sollte sich mal um ihn kümmern.«

   Der Handwerker dreht sich zur Kellnerin um, zeigt auf den Herrn, und ruft laut:

   »Na Liesel, wär der nichts für dich?«

   Die Kellnerin steht immer noch ganz verklärt an die Theke gelehnt. Dass sich der junge Werther aus lauter Liebe selbst umgebracht hat, hat ihr Herz berührt und sie ganz sentimental werden lassen. Abrupt dreht sie sich zum Handwerker und faucht ihn an:

   »Du, du bist ein abscheulicher Dummkopf!«

   Der Herr zu Schubart in bewunderndem Ton:

   »Ich hab` noch etwas aus der Chronik aufgehoben. Auch da empfinde ich genauso wie Ihr.«

   Schubart huldvoll:

   »Das ist schön. Was ist es denn?«

   Wieder kramt der Herr in seiner Tasche und bringt einen weiteren aus einer Chronik-Ausgabe ausgeschnittenen Artikel hervor. Unschlüssig schaut er auf Schubart:

   »Soll ich vorlesen?«

   Schubart mit gönnerhafter Handbewegung:

   »Ich bitte darum.«

   Der Handwerker:

   »Oh Gott, nein!«

   Der Herr räuspert sich kurz und liest:

   »Hier liegt eine Posse - keine Farce, Weg mit dem französischem Plunder - vor mir, die mich fast zu Tod ärgert. - Götter, Helden und Wieland betitelt. Nicht als wenn diese Posse schlecht geschrieben wäre; nein! Ein Meisterstück ist sie, und niemand kann so dialogisieren, als der Verfasser des Götz von Berlichingen, der begabte Goethe. Nur der Angriff auf unsern Wieland, dem wir in aller Absicht so viel zu danken haben, missfällt mir. Leider muss ichs sagen! Keine Gelehrten sind zu Ungezogenheiten, Zänkereien und wechselseitigen Beschimpfungen geneigter, als die Deutschen. Gefahr ists für unsre Literatur, wenn sich die besten Köpfe entzweien und ihr Feuer, das sie zu unsterblichen Werken verschwenden sollten, in Zank und Schmähschriften weglodern lassen.«

   Schubart nickt dem Herrn ernst zu.

   »Das ist wahr! Jede Zeile stimmt noch heut. Auf den Wieland lass ich nichts kommen. Ich selbst hab ihm viel zu verdanken.«

   Der Herr frohlockt:

   »Ich hab`s gewusst! ihr kennt den Wieland!«

   Schubart mit einer majestätisch wirkenden Geste:

   »Als ich in Geislingen noch Schulmeister war, da hat er, der Biberacher Landsmann, mir geistigen Beistand geleistet. Nie kann ich’s vergessen, dass er es war, der mich einst zum Schreiben ermutigte.«

   Der Student ruft dazwischen:

   »Ah, ich dacht` es wär euch in die Wiege gelegt worden? Der Herr hoch droben hätt` euch zum Schreiben gebracht, nicht der Wieland?«

   Schubart winkt ab und nimmt einen Schluck aus dem Bierkrug.

   Der Herr ganz aufgebracht:

   »Aus der Chronik erseh` ich, ihr bewundert auch den Herrn Klopstock und den Herrn Herder.«

   Schubart wieder salbungsvoll:

   »Das ist richtig. Klopstock ist der Größte, mit seinem Messias. Den bewundere ich laut. Herder bewundere ich mit scheuem Respekt.«

   Der Herr etwas skeptisch:

   »Der Herder ist schwer zu verstehen.«

   Schubart lacht selbstgefällig und sagt vor sich hin:

   »Hast du noch einen Magen, der starke Speisen verdauen kann, so studier` den Herder, es wird dich im Bauch grimmen, ist aber heilsame Speise. Der ihn verstehen soll, der versteht ihn. Das ist wie bei den Texten in der Chronik. Die kann auch nicht jeder verstehen.«

   Zum Studenten und zum Handwerker gewandt sagt er augenzwinkernd:

   »Nicht wahr?«

 

Wegen Gotteslästerung gehenkt und verbrannt

   Die Tür zur Gaststube geht auf, der Zensor der Freien Reichsstadt Ulm, Abgesandter des Magistrats, kommt mit einem ernsten Gesicht herein. Langsam geht er auf Schubart zu. Der Handwerker, der Student und der Herr stehen auf. Schubart bleibt sitzen.

   Schubart zum Zensor misstrauisch:

   »Was verschafft mir die überraschende Ehr` eures Besuchs in dieser netten, friedvollen Umgebung? Sonst muss ich doch immer zu euch kommen.«

   Der Zensor förmlich:

   »Bemüht euch nicht, bleibt ruhig sitzen.«

   Schubart äußerlich aufgeräumt zum Zensor:

   »Ihr könnt euch auch setzen. Da ist ein freier Stuhl.«

   Er deutet auf einen Stuhl am anderen Ende des Tisches, direkt ihm gegenüber.

   Der Zensor schüttelt den Kopf.

   »Ich bleib` stehen. Ich hab euch nur kurz eine wichtige Mitteilung zu machen.«

   Schubart schaut etwas unsicher auf den Handwerker, den Studenten und den Herrn, zuckt die Achseln und sagt zum Zensor gespielt gleichmütig:

   »Macht eure Mitteilung.«

   Mit einer Handbewegung zu den anderen am Tisch ergänzt er laut:

   »Das sind meine Freunde. Sie können alles wissen. Ihr könnt reden.«

   Der Handwerker, der Student und der Herr setzen sich wieder. Gespannt blicken sie auf den Zensor. Schubart spielt den Desinteressierten.

   Der Zensor räuspert sich, dann sagt er förmlich und bestimmt, den Blick fest auf Schubart gerichtet:

   »Am 1. Juni 1776, morgens, wurde auf einem Hügel an der Iller, nahe dem Kloster Wiblingen, der sechsundzwanzigjährige Student Josef Nickel öffentlich enthauptet und danach verbrannt. Wegen Gotteslästerung und ...«

   Schubart springt mit einem Schrei auf.

   »Was sagt Ihr da? Der Nickel wurde enthauptet? Und verbrannt? Von wem? Wegen Gotteslästerung? Das ist nicht wahr! Sagt, dass das nicht wahr ist! Ihr wollt mich provozieren! Ist es so?«

   Keuchend steht er vor dem Zensor, der erschreckt einen Schritt zurückgewichen ist. Mit aufgerissenen Augen, herausfordernd stiert Schubart den Zensor an.

   Der Student, der Handwerker und der Herr zeigen sich ebenfalls betroffen, langsam erheben sie sich von ihren Stühlen. Entsetzt und ungläubig schauen sie den Zensor an. Die Kellnerin unterdrückt einen Aufschrei, nur ein kurzer, klagender Laut ist zu hören.

   Steif, abwehrend, von Schubarts heftiger Reaktion überrascht und unsicher steht der Zensor da.

   »Es ist so wie ich sagte!«

   Schubart schreit ihn an:

   »Nahe dem Kloster Wiblingen? Von diesen katholischen Kuttenträgern? Das kann nicht sein! Ich kann`s nicht glauben! Das muss ein schlechter Scherz sein! So dumm und dreist können selbst die da draußen in Wiblingen nicht sein!«

   Der Zensor, der sich wieder gefangen hat, antwortet ruhig und kalt:

   »Es ist wahr! Und im Kloster, aber auch anderswo, sagt man, dass ihr die Hauptschuld an dieser Tragödie habt.«

   Schubart schreit wie von Sinnen:

   »Ich? Ich, Schuld? Die Hauptschuld? Am Tod des armen Nickel?«

   Der Zensor weiter ruhig und kalt:

   »Der Bestrafte, wie ihr auch, wetterte gegen Gassners Wunderheilerei. Das war der Hauptgrund für die Verurteilung. Das genügte, um vom Gericht des Abtes in Wiblingen wegen Gotteslästerei zum Tod verurteilt zu werden.«

   Schubart lässt sich auf seinen Stuhl fallen, stöhnt und klagt:

   »Er hat gegen den Gassner geschimpft, wie ich auch? Ja, das haben wir! Zu Recht! Und das soll sein Todesurteil gewesen sein? Ich kann es nicht glauben. Erst vor kurzem haben wir vortrefflich diskutiert, über dieses Jesuitenpack. Auch hab ich ihm erst einen Roman geliehen. Nickel, mein enger Freund, soll tot sein? Nein, ich kann es nicht glauben!«

   Der Zensor beugt sich über den Tisch, hin zu Schubart, und sagt in einem scharfen Ton:

   »Er wurde rechtmäßig verurteilt! Das Gericht hat der Abt des Klosters höchstpersönlich geleitet.«

   Schubart mit brüchiger Stimme:

   »Der Abt hat das Urteil in eigenem Interesse gefällt. Das ist ein jämmerliches, erbärmliches, höchst ungerechtes Urteil.«

   Der Zensor gefühllos:

   »Dem Hohen Rat der Freien Reichsstadt Ulm, für den ich hier stehe, steht es nicht an, dieses Urteil zu kommentieren.«

   Schubart wiederholt mit monotoner Stimme:

   »Dem Hohen Rat der Freien Reichsstadt Ulm steht es nicht an, dieses Urteil zu kommentieren. Natürlich!«

   Der Zensor mit eisiger Stimme:

   »Das ist richtig! Ich hab` lediglich die Aufgabe, euch von dem Vorkommnis zu unterrichten und euch auch zu warnen.«

   Schubart legt seine Arme auf den Tisch, beugt sich tief vornüber und stiert mit glasigen Augen auf die Tischplatte. Betroffen und bestürzt stammelt er:

   »Der arme Nickel. Mein Freund! Mein armer Freund! Was haben sie dir angetan?«

   Der Zensor langsam, jedes Wort betonend, sagt kalt und gefühllos:

   »Da ist noch etwas! Wie schon gesagt, ich muss euch auch warnen. Die Warnung verbinde ich mit zwei gut gemeinten Ratschläge für euch.«

   Schubart wie aus weiter Ferne, den Blick immer noch starr auf die Tischplatte gerichtet:

   »Ratschläge? Von Euch? Dem Zensor?«

   Der Zensor nickt und sagt in einem Befehlston.

   »Mein erster Ratschlag lautet: Macht künftig einen großen Bogen um Wiblingen, ansonsten kann euch das gleiche Schicksal wiederfahren.«

   Schubart, immer noch mit den Gedanken beim jungen Nickel, hebt den Kopf und sagt laut zum Studenten, der ihm an nächsten sitzt:

   »Das war Mord!«

   Der Student, aber auch der Handwerker und die Kellnerin nicken. Der Herr hält sich raus.

   Der Zensor zuckt die Achseln. Dann wieder im barschen Ton zu Schubart:

   »Mein zweiter Ratschlag lautet: Ihr schreibt in eurer Chronik nichts darüber. Ich will keine Zeile, nicht den geringsten Hinweis auf diese Sache lesen. Habt ihr das verstanden?«

   Langsam, geradezu bedrohlich richtet sich Schubart in seinem Stuhl auf, beide Hände zu Fäusten auf die Tischplatte gestemmt. Durchbohrend fixiert er den Zensor an. Mit lauter, drohender Stimme fragt er:

   »Ich soll über den Vorfall nicht berichten? Ist das euer Ernst?«

   Der Zensor erwidert den durchbohrenden Blick ohne irgendeine Regung. Scharf antwortet er:

   »Genau das will ich euch sagen!«

   Sekundenlang starren sich die beiden an, dann lässt Schubart sich in seinen Stuhl zurückfallen und stiert stumpfsinnig wieder auf die Tischplatte. Der Zensor, unschlüssig steht er am Tischende, sagt nach einer Weile mit einer versöhnlicher klingenden Stimme:

   »Haltet euch daran, schreibt nichts! Es ist zu eurem Besten. Das könnt ihr mir ruhig glauben.«

   Schubart hebt den Kopf, blickt über den Tisch auf einen entfernten Punkt. Tränen laufen über seine Wangen und tropfen auf den Tisch. Leise sagt er zum Zensor:

   »Euer zweiter Ratschlag, der kein Ratschlag, sondern ein Befehl ist, tötet mich und die Zeitung. Tötet meine Ideale und meine Glaubwürdigkeit.«

   Der Zensor wieder kalt und unnachgiebig:

   »Doch leiblich betrachtet bleibt ihr am Leben. Und von euren Lesern werdet ihr nichts zu befürchten haben, die bleiben euch gewogen. Das meinen der Magistrat und ich. Wie heißt es doch, wer nichts weiß, den macht nichts heiß. Also haltet euch daran!«

   Schubart leise und schwerfällig:

   »Und wenn ich mich nicht an den zweiten Ratschlage halte? In der Chronik doch berichte?«

   Der Zensor lauter und schärfer:

   »Seit Januar 1775 seid ihr mit eurer Zeitung in Ulm. Von Augsburg nach Ulm gezogen. Der Eindruck des Hohen Rats ist, dass die Zeitung sich seither erst richtig entwickelt hat. Der Hohe Rat meint, dass das nicht so weiter gehen muss. Es kann sich alles schnell ändern.«

   Schubart lacht verbittert.

   »Ha, der Hohe Rat! Diese hohen Herren ...«

   Der Zensor unterbricht laut und bestimmt:

   »Sagt oder macht nichts Falsches! Haltet euer Temperament - oder was es ist - zurück! Einige im Rat meinen schon seit längerem, dass euer Gebaren die fragwürdigen Manieren eines fragwürdigen Geistes sind. Verscherzt es nicht mit dem Rat. Noch ist er euch im Großen und Ganzen gewogen.«

   Der Zensor nickt Schubart und den anderen kurz zu und geht schnell aus der Gaststube.

   Schubart schreit ihm nach:

   »Befehl einer schwäbischen Reichsstadt 

Kund zu tun und zu wissen ist,

ihr Bürger, macht die Strassen rein

Von allem Kot und Mist

Sonst legt der Magistrat sich drein.«

   Dann sinkt Schubart in seinem Stuhl zusammen, beugt sich über den Tisch, vergräbt den Kopf in seine Arme. Kein Laut ist in der Gaststube zu hören.

 

Das Schicksal bestraft die Mutigen

   Der Handwerker sagt nach einer Weile in die Stille:

   »Den Nickel haben sie getötet. Diese Schweine!«

   Die Kellnerin, der Herr und der Student nicken. Schubart rührt sich nicht. Er sitzt am Tisch, den Kopf immer noch auf die Arme gelegt.

   Der Student sagt zum Handwerker warnend:

   »Du weißt doch, wie rückständig die hier noch sind. Ich glaub, die betreiben da draußen, vor den Toren dieser Reichsstadt, noch die Teufelsaustreibung. Ich sag dir, die katholischen Pfaffen im Südwesten sind gefährlich.«

   Die Kellnerin, die an den Tisch kommt, sich setzt, sagt traurig:

   »Ich erinner` mich an eine Teufelsaustreibung - sie war im Jahr 1763. Das Jahr ist richtig, so etwas vergisst man nicht. Genau weiß ich noch ihren Namen, Anna Bader. Ja, bei der armen Anna Bader aus Heuchstetten haben diese Scharlatane den Teufel auf brutale Weise ausgetrieben.«

   Der Student mit glasigem Blick, er ist mit den Gedanken woanders, sagt über die Schulter zur Kellnerin neben ihm:

   »Bis Neuerungen des Geistes und der Erkenntnis auf die Ostalb kommen, das dauerte schon immer länger. Die halten schon von je her krampfhaft an alten Zöpfe fest. Auch wenn diese längst abgeschnitten sind.«

   Der Herr leise und ehrerbietig zu Schubart:

   »Von meinem Vater weiß ich, dass die Heidenheimer mit der Folter und mit dem Tod schon immer schnell bei der Hand waren. Auf dem Totenberg dort hat schon so mancher brave Mann, nach vorheriger Folter, sein Leben wegen angeblicher Gotteslästerung am Galgen gelassen.«

   Die Kellnerin nickt und sagt zum Herrn:

   »Ich mein`, dass es in der Heidenheimer Gegend immer noch üblich ist, dass man, wenn jemand von einem tollen Hund gebissen wurde, zum nächsten katholischen Pfaffen rennt und den Hubertusschlüssel holt.«

   Schubart richtet sich auf und fragt mit bedrückter Stimme, ohne die Kellnerin anzuschauen:

   »Den Hubertusschlüssel?«

   Die Kellnerin, die zwischen dem Studenten und Schubart sitzt, rückt näher zu Schubart hin und beeilt sich zu antworten:

   »Mit diesem Schlüssel wurde nicht nur der Gebissene, sondern alle Menschen und Tiere um ihn herum gebrannt, damit die Tollheit nicht um sich greift.«

   Schubart schüttelt angewidert den Kopf.

   »Und so einen Schlüssel gab`s beim Pfaffen? Das ist tiefster Aberglaube und Gotteslästerung. Das ist kein christlicher Glaube.«

   Der Student zynisch in die Runde:

   »So sind sie halt, auf der Ostalb.«

   Der Handwerker zu Schubart mit leiser Stimme:

   »Darüber musst du in der Chronik schreiben. Damit so etwas endlich aufhört.«

   Schubart schüttelt resigniert den Kopf:

   »Ich schreib schon viel, vielleicht zu viel? Gegen diese Pfaffen. Der arme Nickel! Vielleicht ist sein Schicksal eines Tages auch meines?«

   Der Handwerker entgegnet schnell:

   »Nicht wenn du dich von der Ostalb fern hältst. In Ulm können sie dir nichts tun. Hier sind auch wir, deine Freunde. Wir stehen zu dir. Zudem, du bist ein Ulmer Bürger. Dieser Status schützt dich.«

   Er beugt sich vor und klopft Schubart aufmunternd auf die Schulter. Die Kellnerin, der Herr und der Student nicken.

   Schubart lacht grimmig.

   »Für zehn Gulden wurde ich ein Bürger dieser Freien Reichsstadt. Doch was heißt das schon? Meine Freiheit in dieser Reichsstadt endet beim Zensor, dem Handlanger der fetten, verbohrten Säcke im Rathaus. Sie bestimmen! Über mich und meine Chronik auf eine arg freiheitsbeschneidende Weise.«

   Aufreizend schaut er in die Runde.

   »Ihr wollt mir doch nicht sagen, dass die mich, wenn`s drauf ankommt, schützen werden?«

   Der Herr zuversichtlich:

   »Langsam aber sicher wird es auch im Südwesten besser. Die Spatzen pfeifen es schon von den Dächern. In Württemberg soll noch in diesem Jahr die Folter abgeschafft werden.«

   Schubart schüttelt den Kopf:

   »Die Folter, ha! Es fällt mir schwer, das zu glauben.«

   Der Student steht auf, legt den Arm um Schubarts Schulter und sagt zu ihm in einem tröstlichen Ton:

   »Du könntest in der Chronik schreiben, dass du aus Gründen des Fortbestehens der Chronik über den Fall Nickel, der auf Veranlassung des Abtes von Wiblingen gehängt und danach verbrannt wurde, nicht berichten darfst.«

   Der Herr ergänzt:

   »Nicht berichten darfst. Ja, das könnt er schreiben.«

   Schubart schüttelt sich, so dass der Student seinen Arm zurückzieht:

   »Ein schlechter Witz!«

   Die Kellnerin zum Studenten und zum Herrn:

   »So etwas würd` der Zensor niemals durchlassen. Der steht doch neben der Druckmaschine und schaut sich ganz genau an, ob und wie seine Verbote eingehalten werden.«

   Der Handwerker nickt ihr zu und sagt dann traurig zu Schubart:

   »Sie hat Recht. Zu bedenken ist auch, wenn du, einerlei in welcher Form, über die Schandtat, die am armen Nickel begannen wurde, berichtest, erfahren das auch die Wiblinger. Danach würden die sicher noch viel intensiver nach deinem Kopf trachten.«

   Der Student deutet mit einer Handbewegung an, dass er die Meinung des Handwerkers teilt und geht zu seinem Stuhl zurück.

   Schubart sarkastisch zu sich selbst:

   »Ich bericht in der Chronik nicht, dann leben ich und die Chronik weiter. Bericht ich aber doch, dann trachten sie noch intensiver nach meinem Leben. Und das wär` dann auch das Ende der Chronik. Die feisten Säcke auf dem Rathaus werden sie verbieten, weil ich dem Zensor nicht gehorcht hab`.&laqu