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                                  START         Jo Specht                                                                             

Ukraine Kriegsgespräche 

    Der Krieg schweißt die Ukrainer zusammen. Im Alltag, beim gegenseitigen Helfen, im Schutzkeller, im Krankenhaus, beim gegenseitigen Trösten, beim Teilen der Schmerzen. Auch bei der Ausbildung für den Kampf, beim Bauen von Panzersperren und Wacheschieben an den Sperren, an der Front, in den Schutzgräben.

   Alle kommen zusammen. Handwerker und Akademiker, Reiche und Arme, Hausfrauen und Stylistinnen, Künstler und Bauern, Junge und Alte, Sportler und Anti-Sportler, Öko-Freaks und Öko-Gegner, Flüchtlinge und Dagebliebene, Autofahrer und Fußgänger, Konservative und Linke, Soldaten und Pazifisten.

   Sie sprechen miteinander, tauschen sich aus - offen und frei von gesellschaftlichen oder sonstigen Zwängen, barrierefrei. Sie sprechen über den Krieg und seine Folgen, über die Gefallenen, über ihre Erlebnisse vor und während des Kriegs, über ihre Wünsche und Vorstellungen, über die Flüchtlinge, über ihre Einstellung zum Kampf und ihre Kampfmoral, natürlich auch über die Unterstützungen aus dem Ausland.

              Es sind Gespräche - wie die hier niedergeschriebenen.

Nur noch Skelette

   Autofahrer: »Sie sehen aus wie Ungetüme aus einer anderen Welt - unheimlich, furchteinflößend.«

   Beifahrer: »Es waren große, mächtige Wohnblocks, jetzt siehst du durch deren Fenster den Himmel.«

   Autofahrer: »Den Himmel weil es keine Fenster mehr gibt - Bomben, Granaten, alles zerstört.«

   Beifahrer: »Nur noch die Vorderfronten stehen. Dahinter - alles weg, nur noch der Himmel.«

   Autofahrer: »Weggebombt und ausgebrannt! Das Feuer machte die Fassaden schwarz.«

   Beifahrer: »Die Bomben lösen immer ein Feuer aus.«

   Autofahrer: »Die Einschläge sind in der Nacht unüberhörbar.«

   Beifahrer: »Ja, nachts sind sie sehr laut.«

   Autofahrer: »Wenn du weißt, sie können kommen, die Flieger mit den Bomben oder sind es Raketen, von weit entfernt abgeschossen, ich weiß es nicht, dann kannst du nicht schlafen. Wenn du am Fenster stehst, in die Dunkelheit starrst, siehst du und hörst du alles viel intensiver. Du siehst den Feuerschweif oder nichts. Doch dann die Explosion, den Feuerball gen den Himmel, den siehst du und du erschrickst. Das Geräusch der gewaltigen Explosion erschreckt dich nochmals. Am Anfang besonders, doch jetzt ist es fast so, als ob du dich daran gewöhnt hättest - an die Feuerschweife, welche die Raketen hinter sich herziehen, an die riesigen Feuerbälle und an die scheibenklirrenden Explosionen. Du kannst nicht schlafen, du stehst am Fenster und schaust zu.«

   Beifahrer: »Ich gehe niemals ans Fenster. Ich bleibe im Bett, bin wach und denke an irgendetwas. Schon nach der ersten Explosion weiß ich nicht mehr, an was ich dachte.«

   Autofahrer: »Nachts ist alles viel lauter und schlimmer.«

   Beifahrer: »Du bist unendlich erleichtert, wenn es vorbei ist. Wenn deine Wohnung nicht getroffen wurde.«

   Autofahrer: »Daran denke ich auch. Oft frage ich mich, ob ich am Fenster das Unheil, wenn es auf mich und meiner Familie zukommt, sehen kann. Aber das ist egal. Ich weiß, sollte meine Wohnung getroffen werden, haben wir keine Chance.«

   Beifahrer: »Jeder von uns ist dann chancenlos.«

   Autofahrer: »Weißt du was ich habe, was alles überlagert - Angst. Ich habe eine fürchterliche Angst! Meine Kinder haben das Leben noch vor sich. Ich habe Angst, das zu verlieren was wir, meine Frau und ich, bisher erreicht haben. Meine Familie und ich, wir wollen jetzt nicht sterben.«

   Beifahrer: »Warum geht ihr nicht in den Keller?«

   Autofahrer: »Der Keller ist überfüllt. Wir haben unsere Betten so nah wie möglich an die Eingangstür geschoben, damit wir schnell raus können, wenn es sein muss.«

   Beifahrer: »Je nach dem ist das gut gedacht.«

   Autofahrer: »Ich weiß! Die Explosionen, die Angst, alles, das macht dich verrückt. Trotzdem bleiben wir in der Wohnung, gehen nicht in den Keller.«

   Beifahrer: »Wir bleiben auch in der Wohnung. Wir haben in der Wohnung alles so gelassen wie es vor dem Krieg war - in der Hoffnung, dass es uns nicht trifft. Wenn ich im Bett liege, höre ich auch genau was danach passiert. Ich warte auf die Geräusche, die nicht kommen sollen, doch dann kommen, manchmal erst nach Stunden - wenn die Häuser zusammenbrechen, Balkone, Dächer, Kamine, Mauern, Glas auf den Boden aufschlagen.«

   Autofahrer: »Je näher die Einschläge, die Explosionen kommen, desto …«

   Beifahrer: »Manchmal sind die Einschläge weit weg, manchmal ziemlich nahe.«

   Autofahrer: »Danach finde ich das Feuer am schlimmsten. Was übrig geblieben ist, das vernichtet das Feuer - Möbel, Gardinen, Teppiche, Betten, Kleider, Spielzeuge, Nahrungsmittel.«

   Beifahrer: »Sie kommen mit einem Löschwagen, um gegen das Feuer anzukämpfen.«

   Autofahrer: »Nicht immer und wenn kommen sie nur mit einem Löschwagen. Es fehlt an Feuerwehrleuten und es fehlt an Löschfahrzeugen. Viele Löschfahrzeuge sind zerstört. Wenn sie da sind, können sie nicht wirklich löschen. Die Brände sind zu groß.«

   Beifahrer: »Das stimmt! Übrig bleiben die fensterlosen, schwarzen Fassaden der zerstörten Wohnblocks.«

   Autofahrer: »Und die Menschen, die in den Wohnblocks lebten. Vorausgesetzt, sie waren während des Einschlags im Keller oder sonst wo.«

   Beifahrer: »Egal wo es in einem Wohnblock einschlägt, das Feuer danach erledigt den Rest. Durch das Feuer sterben auch Leute.«

   Autofahrer: »Du und ich, sind wir verrückt oder lebensmüde?«

   Beifahrer: »Wieso?«

   Autofahrer: »Bei Explosionen bleibst du im Bett und ich am Fenster.«