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                                  START         Jo Specht                                                                             

Brutal wie damals

   Frisör: »Hast du schon gehört, Dmytro ist tot. Du weißt wen ich meine?«

   Versicherungsvertreter: »Ja.«

   Frisör: »Eine Bombe hat ihn getötet. Sie hat sein Haus getroffen, er war im Haus.«

   Versicherungsvertreter: »Ja, ich weiß.«

   Frisör: »Er hat so viel erlebt, über sich ergehen lassen müssen, damals im Konzentrationslager bei den Deutschen. Alle Schikanen und Brutalitäten hat er überlebt. Und jetzt das.«

   Versicherungsvertreter: »Ja, das ist traurig.«

   Frisör: »Unfassbar! Jemand, der so viel Gewalt erlebt hat, der sollte doch einen Bonus haben. Nicht so sterben müssen - heute durch Gewalt sterben müssen.«

   Versicherungsvertreter: »Ja, das stimmt.«

   Frisör: »Vor über siebzig Jahren war er bei den Deutschen im Konzentrationslager. Sie konnten ihm nichts anhaben. Jetzt, nach über 77 Jahren, stirbt er, weil ihm dieser Krieg, diejenigen, die den Krieg ausgelöst haben, etwas anhaben konnten. Das ist doch die Vergewaltigung des Schicksals.«

   Versicherungsvertreter: »Ja, das ist verrückt.«

   Frisör: »Damals haben die Deutschen die Gefangenen im Konzentrationslager durch Arbeit, Hunger, brutale Misshandlungen, Erschießungen, Erhängungen, Giftspritzen und so weiter umgebracht. Immer wieder hat er von dieser Zeit erzählt und immer gesagt, dass sich so etwas nicht wiederholen darf. Ich glaube, er hat insgeheim geglaubt, diese Zeiten sind vorbei, alle haben gelernt, sie werden sich nicht mehr wiederholen. Trotzdem, seine Rolle als Mahner hat er nie aufgegeben. Jetzt kann er nicht mehr mahnen.«

   Versicherungsvertreter: »Ja, jetzt kann er nichts mehr sagen.«

   Frisör: »Mit 99 Jahren musste er sterben. Verstehe mich nicht falsch, 99 Jahre sind ein schönes Alter, viele werden nicht einmal annährend so alt. Wenn er auch nicht mehr lange zu leben hatte, er starb nicht an Altersschwäche. Er starb durch eine russische Bombe.«

   Versicherungsvertreter: »Ja, er starb durch eine Bombe.«

   Frisör: »Ich habe ihn gekannt und du?«

   Versicherungsvertreter: »Er war mein Vater.«

   Frisör: »Was? Entschuldigung! Wirklich? Ich bin überrascht. Entschuldigung, wenn ich einfach so drauflosrede. Oh, mein Beileid! Mein herzliches Beileid. Ich wusste das nicht.«

   Versicherungsvertreter: »Ich hänge es nicht an die große Glocke.«

   Frisör: »Du hättest es gleich sagen können. Willst du über deinen Vater reden?«

   Versicherungsvertreter: »Es kommt darauf an.«

   Frisör: »Über seine Einstellung. Tote und Berge von Toten gab es damals und jetzt gibt es sie wieder. Stimmt es, dein Vater glaubte insgeheim nicht mehr daran, dass sich das, was er erlebt hat, wiederholen könnte?«

   Versicherungsvertreter: »Das kannst du nicht vergleichen.«

   Frisör: »Warum nicht? Krieg und Massenermordungen gab es damals und gibt es jetzt wieder.«

   Versicherungsvertreter: »Damals ging es den Deutschen um die Juden, den Russen geht es um uns.«

   Frisör: »Moment, unser Präsident ist ein Jude. Er steht auf der Todesliste der Russen ganz oben.«

   Versicherungsvertreter: »Putin nennt ihn einen Nazi. Er bezeichnet einen Juden als Nazi. Das ist anders. Und wir haben es nicht mit Deutschen zu tun.«

   Frisör: »Ja schon, aber …«

   Versicherungsvertreter: »Wir haben es mit Lügen zu tun. Behauptet wird, wir unterdrücken, misshandeln und töten Russen in unserem Land, nur weil sie Russen sind. Behauptet wird, wir wollen in die NATO, weil wir mit der NATO Russland angreifen wollen. Behauptet wird, die Russen und wir sind ein Volk, ein Brudervolk, und wir haben die gleichen Wurzeln - russische Wurzeln. Mit diesen Lügen sind die russischen Soldaten und das russische Volk über deren staatlichen Medien und übers Internet geimpft worden. Diese Lügen haben sie jetzt im Blut. Dabei müsste den Soldaten und dem Volk klar sein, mit einem Brudervolk spricht man, das bekriegt man nicht. Es ist doch ein Brudervolk. Behauptet wird weiter, dass gegen uns kein Krieg geführt wird, sondern nur so etwas wie eine kleine Strafexpedition.«

   Frisör: »Sie nennen es Sonderoperation.«

   Versicherungsvertreter: »Du siehst, die Situation ist heute eine ganz andere, das hat auch mein Vater gewusst.«

   Frisör: »Wieviel hat er von diesem Krieg noch mitbekommen?«

   Versicherungsvertreter: »Genug! Er wusste genug!«

   Frisör: »Und?«

   Versicherungsvertreter: »Er war für den Kampf, für die Verteidigung. Deshalb stehe ich hier.«