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                                  START         Jo Specht                                                                             

Im Haus bleiben

   Hausbewohner: »Mein kleines Haus ist alt, vielleicht fällt es demnächst zusammen, doch ich habe keine andere Wahl. Ich bleibe drin wohnen. Ich kann nicht weg. Können Sie das verstehen? Ich kenne Sie nicht, Sie scheinen zufällig vorbeizukommen. Trotzdem frage ich Sie: Können Sie das verstehen?«

   Passant: »Du teilst dein Schicksal mit vielen anderen. Sie wollen auch nicht weg, unabhängig davon, ob sie ein Haus haben, über Vermögen verfügen oder nicht. Sie wollen hier bleiben, in der Heimat.«

   Hausbewohner: »In Ordnung, bleiben wir beim Du. Inzwischen sagen alle Du.«

   Passant: Die Not schweißt zusammen. Sie schafft eine neue Vertrautheit. Das ist sehr schön.«

   Hausbewohner: »Von dieser neuen, durch Bomben verursachten Vertrautheit spüren wir auf dem Land noch nicht viel. Doch sie ist sehr schön, sicherlich. Trotzdem hoffe ich, dass bei uns keine Bomben fallen.«

   Passant: »Sondern nur in den Städten, was?«

   Hausbewohner: »Nein, nein, das habe ich nicht gemeint.«

   Passant: »In den Städten haben Bomben und Raketen viele Häuser zerstört. Oder so baufällig gemacht, dass sie bald einstürzen, wie möglicherweise dein kleines Haus in den nächsten Jahren aufgrund seiner Altersschwäche.«

   Hausbewohner: »Die zerstörten und ausgebrannten Häuser habe ich im Fernsehen gesehen. Kein Haus sollte einstürzen, weil es von Bomben getroffen wurde.«

   Passant: »Das stimmt! Aber aus anderen Gründen auch nicht.«

   Hausbewohner: »Angenommen, ich lasse mein Häuschen renovieren, es steht wie neu da, plötzlich fallen Bomben drauf. Dann ist es doch besser, wenn ich nicht renoviere und es von sich aus zusammenfällt.«

   Passant: »Du erwartest, dass irgendwann auch hier gebomt wird und eine Bombe dein Haus trifft?«

   Hausbewohner: »Nein, das erwarte ich nicht. Überhaupt nicht! Ich erwarte, dass alles bald aufhört.«

   Passant: »Kannst du dein Häuschen nicht so festigen, damit es nicht von selbst zusammenfällt? Das kannst du machen. Wenn von einem Flugzeug etwas drauffällt, dagegen kannst du nichts machen.«

   Hausbewohner: »Ich bin kein Handwerker. Und um irgendetwas selbst etwas zu machen, dafür bin ich zu alt.«

   Passant: »Jetzt jemand zu finden, der dir hilft, das ist schwierig.«

   Hausbewohner: »Alle sind fort.«

   Passant: »Oder gefallen oder kämpfen oder sind mit dem Überleben beschäftigt.«

   Hausbewohner: »Mit dem Überleben, indem sie vom Haus in den Keller ziehen. Indem sie im Keller wohnen, ich habe die Bilder im Fernsehen gesehen.«

   Passant: »Sie leben im Keller, weil es das Haus über dem Keller nicht mehr gibt. Insoweit hast du Glück, dein Häuschen steht noch.«

   Hausbewohner: »Ja, sie sind schlechter dran.«

   Passant: »Ich habe heute Morgen in der Stadt in einem zwölfstöckigen Wohnhaus eine Frau und einen Mann gesehen, sie haben ganz oben, im obersten Stock, aufgeräumt. Sie haben zerstörte Möbel einfach nach draußen geschoben und in die Tiefe fallen lassen.«

   Hausbewohner: »Über den Balkon geschoben und weg.«

   Passant: »Da war kein Balkon mehr. Da war auch keine Außenwand, keine Fassade mehr. Die Frau und der Mann haben die Möbelstücke einfach nach vorne geschoben und nach unten auf die Straße fallen lassen. Ich konnte vom Boden aus alles sehen. Alles war offen. Der Rest der Fassade war schwarz.«

   Hausbewohner: »Ich habe im Fernsehen brennende Häuser gesehen, aus den Fenstern quollen dichte, schwarze Rauchwolken. Mit den Bomben brennen auch die Möbel.«

   Passant: »Ja, eine gewaltige Fliegerbombe und das Feuer danach haben den Wohnblock zerstört.«

   Hausbewohner: »Im Fernsehen zeigen sie viele solche Bilder.«

   Passant: »Es muss schon vor Tagen passiert sein. Der Brand war gelöscht, nirgends stieg Rauch auf.«

   Hausbewohner: »Wer erlaubt den Leuten, in so einen einsturzgefährdeten Wohnblock zu gehen?«

   Passant: »Niemand, sie gehen einfach hinein. Sie gehen zu dem was von ihrer Wohnung, von ihrem Hab und Gut übrig geblieben ist.«

   Hausbewohner: »Das machen sie, obwohl alles jeden Augenblick zusammenstürzen kann?«

   Passant: »Seit die Bomben fallen, seither leben doch die meisten von uns in Lebensgefahr. Das scheint hier im Dorf noch nicht angekommen zu sein.«

  Hausbewohner: »Doch ja, wir auf dem Land sind bis jetzt nicht in solch einem Ausmaß betroffen. Doch wer in so ein Haus geht, der fordert sein Schicksal heraus. Und warum hat das Paar, das du beobachtet hast, ihre Wohnung aufgeräumt? Das macht doch keinen Sinn?«

   Passant: »Wie du hoffen sie, dass das Haus nicht einstürzt. Zudem, sie schauen nach, sie wollen wissen was von ihren Sachen übrig geblieben ist. Verstehst du das?«

   Hausbewohner: »Wenn ich nachdenke, verstehe ich schon. Es ist die Bindung an die Heimat, an allem was einem wertvoll ist, an dein bisheriges Leben. Das sind sehr starke Bindungen. Ich spüre sie auch.«

   Passant: »Somit, du bleibst hier, weil du es willst, nicht weil du musst?«

   Hausbewohner: »Ich glaube ja.«