Ihre Browserversion ist veraltet. Wir empfehlen, Ihren Browser auf die neueste Version zu aktualisieren.
                                  START         Jo Specht                                                                             

Sichere Korridore

   Helfer: »Von wo kommst du?«

   Busfahrer: »Aus Kiew.«

   Helfer: »Ganz schön weit weg.«

   Busfahrer: »Hier werden Busfahrer gebraucht, also bin ich hiergefahren.«

   Helfer: »Einfach so?«

   Busfahrer: »Einfach so, ja.«

   Helfer: »Mein Team und ich machen die Erstversorgung.«

   Busfahrer: »Ihr übernimmt sie?«

   Helfer: »Ihr Busfahrer holt sie aus Mariupol raus, wir machen die Erstversorgung, danach geht es weiter.«

   Busfahrer: »Wohin?«

   Helfer: »Das weiß ich nicht. Das ändert sich doch ständig.«

   Busfahrer: »Ich weiß! Hauptsache Ukraine, nicht Russland.«

   Helfer: »Hauptsache Ukraine, ja. Sie können euch nicht zwingen, nach Russland zu fahren.«

   Busfahrer: »Was machst Du, wenn zwei von denen neben Dir herfahren und ständig ihre Kalaschnikows auf Dich gerichtet haben? Du weißt genau, änderst Du die Strecke, schießen sie.«

   Helfer: »Ich habe gehört, dass die Busse nach Russland von russischen Fahrern …«

   Busfahrer: »Es sind ukrainische Busse, die Russen übernehmen sie, unsere Fahrer werden rausgeschmissen. Die Zivilisten aus Mariupol werden mit blumigen Worten beruhigt, dann geht es nach Russland. Dort ergeht es ihnen schlecht - Leben im Lager, keine Rechte, keine Rückkehr, irgendwann Zwangsansiedelung im kalten, brutalen Norden von Russland.«

   Helfer: »Unsere Kämpfer reden da auch ein Wörtchen mit.«

   Busfahrer: »Wenn die Fahrt durch deren besetzte Gebiete geht, nicht - nicht wirklich. Da haben wir keine Chance. Bis der Widerstand organisiert ist, da ist der Bus schon hundert Kilometer weiter.«

   Helfer: »Wie lange wartest Du schon?«

   Busfahrer: »Ich bin hier seit einer Woche. In dieser Zeit war ich einmal in Mariupol und habe etwa vierzig Zivilisten mitnehmen können. Mehrmals am Tag sagen unsere Leute, die die Verhandlungen führen, dass demnächst ein Korridor wieder frei wird. Sie sich mit den Russen einigen konnten. Und dann, plötzlich ist es Essig! Irgendein Russe sagt - Nein! Da können wir sogar noch froh sein. Manchmal kommt das Nein während wir im Korridor sind.«

   Helfer: »Und dann?«

   Busfahrer: »Alles ist möglich. Sie schießen auf uns, sie halten uns an, nehmen uns gefangen oder lassen uns laufen, sie beschlagnahmen oder zerstören die Busse - Granate rein und fertig. Wenn sie gut drauf sind, zwingen sie uns lediglich zur Umkehr. Als ich herkam waren es genau neunzig Busse. Jetzt sind es zehn weniger.«

   Helfer: »Warum?«

   Busfahrer: »Einige liegen irgendwo zwischen hier und Mariupol - zerschossen und ausgebrannt. Einige sind in Mariupol und haben irgendeinen russischen Angriff auf die Stadt nicht überlebt.«

   Helfer: »Ich habe gehört, dass ihr, wenn ihr in die Stadt fährt und später mit Zivilisten wieder rauskommt, aufs genaueste untersucht werdet. Ein Busfahrer musste sich sogar einmal bis auf die Unterwäsche ausziehen.«

   Busfahrer: »Das stimmt! Das war reine Schikane. Angeblich hat der Busfahrer nicht schnell genug geantwortet. Sie haben das als einen Widerstand gegen ihre Anordnungen aufgefasst.«

   Helfer: »Wie laufen die Busdurchsuchungen ab?«

   Busfahrer: »Ja, zwei Mal werden wir ganz genau gefilzt, beim Reinfahren und beim Rausfahren. Beim Reinfahren suchen sie nach Waffen und Lebensmittel, die wir zu unseren Kämpfern schmuggeln könnten. Beim Rausfahren suchen sie nach den Kämpfern, die wir rausschmuggeln könnten. Doch das ist ein Witz. Wir schmuggeln nichts rein und niemanden raus. Entdecken sie hier irgendetwas, erschießen sie uns sofort. Wir haben nicht einmal ein Taschenmesser oder eine Tüte Erdnüsse mit uns.«

   Helfer: »Ihr Busfahrer lebt gefährlich. Ich ziehe meinen Hut vor euch.«

   Busfahrer: »Schau den Bus neben uns. An der Seite siehst du mindestens zehn Einschüsse. Als sie den Korridor nach Mariupol zumachten, kehrte der Fahrer um, sie schossen. Er hatte Glück. Zwei Busfahrer aus Mariupol weniger. Einer kehrte um, fuhr nach Mariupol zurück, die Russen starteten in diesem Augenblick einer ihrer Angriffe, schossen mit schwerer Artillerie auf die Stadt. Alle rannten aus dem Bus in einen Schutzkeller, eine Minute später war der Bus nur noch ein Haufen Blech - ein Volltreffer. Der andere Bus fuhr weiter und wurde beschossen. Sie trafen den Fahrer und einige Passagiere. Im Bus brach Panik aus. Ein Zivilist fuhr den Bus weiter, bis hierher.«

   Helfer: »Der Fahrer und die Passagiere, haben sie überlebt?«

   Busfahrer: »Ein Passagier, ein Frau, sie starb. Neben ihr saß ihr fünf Jahre alter Sohn. Seine Mutter hatte die Kugeln abbekommen, er blieb unverletzt. Sie starb vor seinen Augen.«

   Helfer: »Furchtbar!«

   Busfahrer: »Sie haben noch ein paar andere Tricks auf Lager. Anfangs sind wir mit vollen Tanks reingefahren. Nachdem sie uns einige Male Kraftstoff abgezapft haben, machen wir das nicht mehr. Wir haben gerade soviel im Tank, dass wir in die Stadt hineinfahren und wieder hinausfahren können. Einmal haben sie in Mariupol den Tank eines unserer Busse total leergepumpt. Den Reservekanister, den der nächste Bus dabei hatte und mit dem der leergepumpte Bus aufgetankt werden sollte, haben sie kassiert.«

   Helfer: »Jetzt steht in Mariupol ein Bus mit leerem Tank.«

   Busfahrer: »Nicht wirklich! Ein Geschoss hat ihn in mehrere Teile zerlegt.«