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Stumme Proteste

   Alte Frau: »In Moskau haben sie meine Schwester verhaftet. Seit Tagen habe ich keinen Kontakt mehr zu ihr.«

   Pazifistin: »Du hast eine Schwester in Moskau?«

   Alte Frau: »Sie ist krank, sie braucht ihre Medikamente.«

   Pazifistin: »Warum ist deine Schwester in Moskau?«

   Alte Frau: »Wegen der Liebe. Sie hatte einen russischen Garagenbesitzer geheiratet. Mit ihm hat sie zwei Söhne. Vor zwei Jahren ist er gestorben. Jetzt ist sie in Moskau allein.«

   Pazifistin: »Ihre Söhne? Kümmern sie sich nicht um ihre Mutter?«

   Alte Frau: »Sie haben geheiratet, jeder hat seine eigene Familie, Kinder, ein eigenes Haus mit Garten, ein schönes Auto, in Moskau, wo alles teuer ist. Sie arbeiten viel. Da bleibt nicht viel Zeit für die Mutter.«

   Pazifistin: »Was ist passiert? Warum wurde sie verhaftet? Weil sie Ukrainerin ist?«

   Alte Frau: »Im Herzen ist sie Ukrainerin, doch aufgrund der vielen Jahre in Russland ist sie Russin geworden. Ihr Mann wollte das, sie auch.«

   Pazifistin: »Warum wurde sie verhaftet?«

   Alte Frau: »Sie war im Gorki Park mit drei weißen Tulpen. Sie hat mir überhaupt nichts gesagt. Aber ich weiß warum sie dort war.«

   Pazifistin: »Und?«

   Alte Frau: »Sie wurde festgenommen.«

   Pazifistin: »Warum? Mit welcher Begründung?«

   Alte Frau: »Sie stand nur da. Die Leute gingen an ihr vorbei. Sie schaute keinen von ihnen an, sie schaute immer auf den Boden. Sie stand nur da, mit den drei weißen Tulpen. Das hat mir eine Nachbarin von ihr gesagt, die sie im Park zufällig gesehen hat.«

   Pazifistin: »Ich verstehe!«

   Alte Frau: »Was verstehst du? Sie hat doch nichts gemacht!«

   Pazifistin: »Dastehen und drei weiße Tulpen in der Hand halten, das wurde als eine Protestaktion gegen den Krieg bei uns in der Ukraine  angesehen. Alle, die in Russland gegen den Krieg protestieren, werden festgenommen, oft wochenlang eingesperrt, danach mit hohen Bußgeldern bestraft. Manche erhielten sogar mehrjährige Gefängnisstrafen.«

   Alte Frau: »Meine Schwester ist alt und krank. Sie war immer eine vorbildliche Russin.«

   Pazifistin: »Das nützt ihr zwei Mal nichts, vor allem weil sie in der Ukraine geboren ist. Deine Schwester ist mutig. Vor kurzem ist ein Kollege von uns auf dem Roten Platz verhaftet worden, der ein weißes Papier vor sich hertrug. Er lief kreuz und quer über den Platz, nicht einmal fünf Minuten lang. Er sagte nichts, sprach mit keiner Menschen Seele. Sechs Polizisten haben ihn vor allen Leuten mit Knüppeln geschlagen und dann mitgenommen.«

   Alte Frau: »Ist er auch in der Ukraine geboren?«

   Pazifist: »In Russland, er ist durch und durch ein Russe. Er wollte mit dem weißen Blatt, eine gewöhnliches Blatt aus einem Papierblock gerissen, die Leute um ihn herum zum Nachdenken anregen. Er hoffte, dass die Leute verstehen was er mit dem leeren Blatt ausdrücken möchte. Sie sollten nachdenken und erkennen, dass der Krieg ein Wahnsinn ist. Er gehört unserer weltweiten Bewegung für den Frieden an.«

   Alte Frau: »Ich weiß, es gibt Russen, die gegen den Krieg sind. Meine Schwester ist nicht wirklich eine Russin. Allein schon weil sie in der Ukraine geboren und aufgewachsen ist, lehnt sie den Krieg ab.«

   Pazifistin: »Marina Ovsyannikova, die Journalistin beim russischen Staatsfernsehen, ist eine Russin, die gegen den Krieg und die verlogene Propaganda für den Krieg ist. Sie hielt ein Plakat mit Stoppt den Krieg. Glaubt der Propaganda nicht. Hier werdet ihr belogen während der Hauptnachrichtensendung für alle sichtbar ins Bild.«

   Alte Frau: »Das habe ich gesehen. Sie hat auch ukrainische Wurzeln.«

   Pazifist: »Die Gefängnisse in Moskau sind mit Kriegsgegnern überfüllt. Inzwischen werden sie auf alle Gefängnisse in ganz Russland verteilt.«

   Alte Frau: »Ich habe die Berichte im Fernsehen gesehen. Da gab es richtige Kämpfe, die Kriegsgegner mit der Polizei. Gegen Polizisten dürfen sie nicht kämpfen, da verlieren sie. Meine Schwester hat nicht gekämpft.«

   Pazifistin: »Unser Mann auf dem Roten Platz auch nicht. Trotzdem wurde er geschlagen und verhaftet. Doch! Gegen russische Polzisten und russische Soldaten muss du kämpfen. Du hast keine andere Wahl mehr.«

   Alte Frau: »Ich dachte, du bist gegen Gewalt und Blutvergießen. Das hast du mir einmal gesagt.«

   Pazifistin: »Ja, das war meine Meinung. Inzwischen habe ich gelernt, wer Frieden und Freiheit will, der muss bereit sein, diese auch zu verteidigen. Wenn notwendig mit Waffengewalt.«

   Alte Frau: »Damals hast du viel über passiven Widerstand gesprochen. Ich glaube, du hast dabei gesagt, wenn dir jemand auf die linke Wange schlägt, dann halte ihm auch die rechte hin.«

   Pazifistin: »Das war damals! Da war ich naiv! Inzwischen habe ich gelernt! Ich hätte mir damals nie träumen lassen, dass das russische Regime, zu dem auch die Polizisten gehören, drei weiße Tulpen oder ein weißes Blatt Papier als sehr gefährlich ansehen. Deine Schwester und unser Kollege haben eine Art passiven Widerstand geleistet. Und jetzt? Sie wurden verhaftet und niemand weiß, wo sie sind, wie es weitergeht. Und wir haben den Krieg. Wir sollen ausgelöscht werden! Passiver Widerstand bringt nichts!«

   Alte Frau: »Du kämpfst? Mit Waffen?«

   Pazifistin: »Ich bin für den Einsatz von Waffen. Ich kämpfe für den sofortigen Stopp des Kriegs, für die Bestrafung der Kriegsverbrecher, für das Ende des russischen Regimes. Ebenso für Freiheit und Rechtssicherheit in Russland. Gibt es diese Werte dort, werden sie uns nie mehr angreifen, dann sind wir enge Freunde. Heute sind wir davon ganz weit entfernt. Heute wird jegliche Art von Protest, sei er auch noch so verrückt, als Zersetzung der Staatsmacht gewertet. Ein Freund sagte mir, dass in Moskau die Besitzer von weißen Hunden, wenn sie mit ihnen Gassi gehen, Gefahr laufen, verhaftet zu werden.«

   Alte Frau: »Die Hunde werden auch verhaftet?«

   Pazifistin: »Es geht um die Farbe Weiß. Sie steht für Frieden, Reinheit, Eintracht, Güte, Harmonie. Alles Kriterien, über die der russische Machtapparat nicht verfügt. Deine Schwester kannte die Bedeutung der Farbe, sonst hätte sie nicht weiße Tulpen gewählt. Kannst du keinen Kontakt mit den Söhnen deiner Schwester aufnehmen? Sie wissen sicherlich wo ihre Mutter ist.«

   Alte Frau: »Nein!«

   Pazifistin: »Warum nicht? Habe ich etwas falsches gesagt?«

   Alte Frau: »Sie mussten sich melden.«

   Pazifistin: »Wau! Sie mussten sich melden, um gegen uns zu kämpfen. Ist es das?«

   Alte Frau: »Auch deshalb hat meine Schwester im Gorki Park gegen den Krieg protestiert. Nicht nur weil sie in der Ukraine geboren und aufgewachsen ist.«

   Pazifistin: »Die Söhne hätten verweigern können.«

   Alte Frau: »Sie haben Angst, alles zu verlieren.«