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                                  START         Jo Specht                                                                             

Über Nacht alt

   Ärztin: »In den Gesichtern der Mädchen spiegelt sich der Krieg. Ihre Gesichter sind gezeichnet. Das tut mir so unendlich leid.«

   Arzthelferin: »Ihre Gesichter sind alt.«

   Ärztin: »Ja, alt - ohne Falten, aber alt.«

   Arzthelferin: »Die Augen, starr und glanzlos. Sie schauen tieftraurig. Nicht erschreckt über das, was sie gesehen haben, nein, nur tieftraurig. Das Gesicht, die Augen, überhaupt alles an ihnen erscheint apathisch.«

   Ärztin: »Ich weiß nicht, wie wir ihnen helfen können.«

   Arzthelferin: »Wir können nicht helfen. Es sind innere Verwundungen.«

   Ärztin: »Entstanden durch Schocks, durch extreme Erlebnisse.«

   Arzthelferin: »Sie erzählen nur Bruchstücke, stockend, ohne erkennbaren Zusammenhang. Während sie erzählen, weinen sie nicht.«

   Ärztin: »Ich habe auch versucht, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Sie sagen, wer tot ist. Die Mutter, der Vater, die Schwester, die Oma, oft in Verbindung mit Männern. Mehr sagen sie nicht.«

   Arzthelferin: »Sie dürften die Ermordung von Angehörigen gesehen haben. Wenn sie Männer sagen, kann keine Bombe oder Rakete …«

   Ärztin: »Ja, das ist anzunehmen.«

   Arzthelferin: »Was machen wir?«

   Ärztin: »Wir reden mit ihnen. Wir reden, sie brauchen nichts sagen. Vielleicht hören sie uns zu. Ich glaube, der Klang unserer Stimmen, unser Mitgefühl, unsere Anteilnahme dürfte ihnen, diesen vier Mädchen, gut tun.«

   Arzthelferin: »Ganz normal reden - langsam und normal, das ist gut. Wir könnten ihnen Märchen vorlesen.«

   Ärztin: »Lieber nicht. Wir müssen sie anschauen, sie sollen uns anschauen. So sehen wir vielleicht, was in ihnen vorgeht. Wo wir vielleicht doch helfen können, mit Trost, in den Arm nehmen, mit streicheln.«

   Arzthelferin: »Mit singen.«

   Ärztin: »Singen später, zuerst müssen wir sie für uns gewinnen. Sie müssen Vertrauen zu uns haben. Ich kann nicht singen.«

   Arzthelferin: »Das übernehme ich dann später. Ich kenne einige schöne Schlaflieder. Solche Lieder beruhigen.«

   Ärztin: »Vorlesen ist auch deshalb nicht gut, da konzentrieren wir uns automatisch auf das Buch und nicht so richtig auf sie. Wir wissen nicht was sie interessiert. Überhaupt Märchen, ich kenne kein Märchen, indem nicht etwas schreckliches passiert. Ich schlage vor, wir erzählen von uns. Zuerst stellen wir uns vor, dann erzählen wir über unsere Vorlieben und so. Keine Witze oder Späße, kein Lachen.«

   Arzthelferin: »Verstanden. Wer beginnt?«

   Ärztin: »Ich, doch nach einigen Minuten übernimmst du, dann wieder ich und so weiter. Versuchen wir es, eine halbe Stunde lang. Klappt es, machen wir weiter.

   Arzthelferin: »Wie merken wir, dass es klappt?«

   Ärztin: »Ich weiß es nicht. Ich bin Zahnärztin, keine Psychologin, wie du weißt. Vielleicht sollten wir dann doch Fragen stellen mit dem Ziel, dass sie etwas von sich erzählen. Etwas aus dem Kindergarten, von einer Geburtstagsfeier, über ihre Puppen auf jeden Fall nichts was mit dem Krieg oder ihren Erlebnissen zu tun hat.«

   Arzthelferin: »So machen wir es.«

   Ärztin: »Ich heiße Oksana und … Kind was ist mit dir?«

   Arzthelferin: »Du hast gerade deinen Namen gesagt, da hielt sie sich die Ohren zu, öffnete sie den Mund, als ob sie schreien wollte.«

   Ärztin: »Vielleicht hieß ihre Mutter auch …. wie ich. Komm, jeder von uns nimmt zwei in den Arm. Wir sagen nichts, wir umarmen sie nur und drücken sie an uns.«

   Arzthelferin: »Ja, die Nähe …«

   Ärztin: »Meine zwei drücken mich ganz fest.«

   Arzthelferin: »Ja, als ob sie jemand gleich wegholen wollte. Sie klammern sich regelrecht an mich.«

   Ärztin: »Wir machen das richtige.«